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Der Erste Weltkrieg: Eine Tragödie, kein Verbrechen

Der Cambridge-Historiker Christopher Clark analysiert in seinem Buch "Die Schlafwandler" die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges - und überrascht mit einer neuen Deutung der Schuldfrage. Ein Meisterwerk.

Historische Betrachtungen sind in Deutschland unweigerlich mit der Schuldfrage verknüpft. Schon gar, wenn es um die beiden Weltkriege geht. Doch was beim Zweiten sehr eindeutig ist, dass Hitler unter allen Umständen den Krieg wollte, ist beim Ersten durchaus nicht klar. Gewiss, es hat in den 60er Jahren die „Fischer-Kontroverse“ gegeben, ausgelöst durch das Buch des Hamburger Historikers Fritz Fischer mit dem bezeichnenden Titel „Der Griff nach der Weltmacht“. Ihm wurde die Behauptung zugeschrieben, das Deutsche Kaiserreich trage die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg, den es durch aggressive Politik seit Jahren heraufbeschworen hatte.

Abgesehen davon, dass sich Fischer gegen eine solche Simplifizierung stets verwahrte und zurückhaltend davon sprach, dass auf dem Kaiserreich „ein erheblicher Teil der historischen Verantwortung“ laste, war man damit wieder beim Versailler Vertrag angekommen und seinem berüchtigten Artikel 231, der Deutschland eben diese Alleinschuld – und eine astronomische Last von Reparationen – aufbürdete. Geschichte wird nun einmal von den Siegern geschrieben.

Christopher Clark, der in Cambridge lehrende Kenner der preußisch-deutschen Geschichte, legt mit seinem nun in deutscher Übersetzung erhältlichen Buch „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ eine Analyse der Vorgeschichte dieses Krieges vor, die die Schuldfrage nicht ausklammert, sondern als unfruchtbar verwirft. Clark zufolge war „der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen“ – was nicht bedeute, „dass wir die kriegerische und imperialistische Paranoia der österreichischen und deutschen Politiker kleinreden sollten“. Nur gab es „Paranoia“ auf allen Seiten: „Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur.“

Sie war, fährt Clark fort, „darüber hinaus multipolar und wahrhaft interaktiv – genau das macht sie zu dem komplexesten Ereignis der Moderne“. Nun ist es mit Superlativen immer so eine Sache; doch wie komplex, ja schier unentwirrbar die Krise war, das macht Clark in seinem umfangreichen Buch deutlich. Die Krise, der Clark die Hauptrolle beim Weg in den Krieg zuschreibt, ist die Folge regionaler Konflikte auf dem Balkan, die sich nach 1900 immer mehr zuspitzen, bis sie in die beiden Balkankriege von 1912/13 und nochmals 1913 münden. Da waren dann schon alle Protagonisten des folgenden „Great War“, wie er im Englischen genannt wird, mit ihren widerstreitenden Interessen involviert.

Und dann kommt der 28. Juni 1914 und mit ihm die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch serbische Terroristen im bosnischen Sarajewo. Diesen Anschlag als Anlass, nicht jedoch als Auslöser des Krieges zu sehen, entspricht gängiger Sichtweise. Das Attentat werde zumeist „als reiner Vorwand behandelt, als ein Ereignis ohne großen Einfluss auf die eigentlichen Kräfte, deren Zusammenspiel den Konflikt herbeiführte“, bemängelt Clark. Für ihn hingegen ist Serbien „einer der blinden Flecken der Historiographie zur Julikrise“ – der europäischen Krise von 1914, die in die Mobilmachungen und Kriegserklärungen mündete.

Es ist keine leichte Kost, die Clark dem Leser auftischt. Er befeuert nicht das herkömmliche Kopfschütteln über „Europas ,letzten Sommer’ als ein Kostümspektakel“, über „die verweichlichten Rituale und pompösen Uniformen“. Und er lässt „nicht einfach die Abfolge der internationalen Krisen Revue passieren“, sondern versucht zu deuten, „wie jene Ereignisse empfunden und in Narrative eingewoben wurden, welche die Wahrnehmungen prägten und Verhalten motivierten“. Das bedeutet, in die Vorstellungen von nationaler Ehre, von Bevorzugung und Zurückweisung einzutauchen, die damals gängig waren und sich auf dem Balkan zu einer explosiven Mischung verdichteten, auf dem seit Jahrhunderten Okzident und Orient in Gestalt der habsburgischen Monarchie und des Osmanischen Reiches zusammenstießen und zwischen sich die halb kolonialen, halb souveränen Balkanstaaten hervorbrachten.

Damit rückt die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie in den Blick, wie sie durch den „Reichsausgleich“ von 1867 geschaffen worden war – eine instabile Konstruktion, die überhaupt erst verständlich macht, wieso sich die Nationalitäten in einem „Völkerkerker“ wähnten. Clarks Einsichten in die Mentalitäten der handelnden oder auch nur getriebenen Personen sind erhellend. So verweist Clark auf die Männlichkeitsrituale aller Beteiligten – zu einer Zeit, da ebendiese Männlichkeit bereits bedroht erschien. Der österreichische Generalstabschef Freiherr Conrad von Hötzendorf unterhielt über Jahre hinweg eine merkwürdig verklemmte Affäre – und rief zugleich 1913/14 glatte 25 Mal zum Krieg gegen Serbien auf. Conrad war der erbitterte Gegner des Thronfolgers Franz Ferdinand, den Clark – eine der Überraschungen seines Buches – als Kriegsgegner und verhinderten Reformer der Austromonarchie zeichnet.

Es ist diese Verschränkung von Ereignis- und Wahrnehmungsebene, die das Buch so bedeutend macht. Es ist, wie die „New York Times“ urteilte, „ein Meisterwerk“. Zahllos sind die Episoden, die Clark anführt, um Verwirrung und Ratlosigkeit, Doppelzüngigkeit und einsame Entschlüsse deutlich zu machen, wie sie die Kabinettspolitik dieser alten Welt kennzeichnen. Ist beispielsweise in Erinnerung, dass Großbritannien, getrieben von einer Handvoll Minister um Edward Grey, in der Marokkokrise von 1911 geradezu einen Krieg mit dem verhassten Deutschen Reich provozieren wollte, so dass selbst Deutschlands „Erbfeind“ Frankreich überrascht war und Russland gänzlich Abstand hielt? Derselbe Grey, der als Außenminister in der Julikrise 1914 mit seinen widersprüchlichen Äußerungen an die einander konfrontierenden Mächte falsche Signale aussandte, so dass sich die französische Seite der bedingungslosen Unterstützung, die deutsche aber der Neutralität Großbritanniens sicher wähnten? Der deutsche Einmarsch in Belgien, propagandistisch von der Entente geschickt gegen die „Hunnen“ gewendet, erscheint, liest man nur die Details, in einem anderen Licht. Und was die in der Literatur hochgespielte deutsche Ursünde der Flottenrüstung „gegen“ England angeht, vermerkt Clark trocken, dass „die britischen Ausgaben für den Flottenbau 1904 dreimal so hoch wie die deutschen und selbst 1914 noch mehr als doppelt so hoch“ waren.

Clark knüpft hier, ohne ihn zu nennen, an Niall Ferguson an, der bereits 1998 in seinem Buch „Der falsche Krieg“ die britische Politik, bis dahin scheinbar über jeden Makel erhaben, kritisch beleuchtete. Beide Autoren sind sich einig, dass das britische Interesse nicht primär gegen Deutschland, sondern gegen Russland gerichtet war – und weil Russland als Bedrohung der Stellung des British Empire im Nahen und Mittleren Osten gesehen wurde, sollte es auf keinen Fall durch britische Neutralität verärgert werden.

Das Jahr 1913 sah dann allerdings eine Rüstungsspirale, die die entscheidende Schwäche Europas bloßlegte: die mangelnde Kommunikation und, dadurch bestärkt, die Angst vor dem Gegner. Russland rüstet auf, Deutschland verstärkt seine Truppen, Frankreich erhöht sie schlagartig um die Hälfte durch die Ausdehnung der Dienstzeit, Russland baut mit französischen Krediten Eisenbahnstrecken für den raschen Truppentransport. Und schließlich gibt die Entente der instabilen k.u.k. Monarchie keine Zukunft mehr, ein Umstand, der die nach damaligen Ehrbegriffen durchaus akzeptable Reaktion Österreichs auf den Mord von Sarajevo überhaupt erst zum casus belli macht. Doch „plante zu diesem Zeitpunkt keine einzige europäische Großmacht den Beginn eines Aggressionskrieges gegen ihre Nachbarn“, hält Clark fest: „Ein Präventivkrieg war nie Bestandteil einer politischen Linie geworden.“

Doch der Krieg kam, weil die diffizilen Bündniserwägungen aufseiten der Triple-Entente – Großbritannien, Frankreich, Russland – es geraten erscheinen ließen, den Konflikt mit dem Deutschen Reich zu suchen. Winston Churchill beispielsweise, damals Erster Seelord, zeigte sich bei der Aussicht auf den Krieg „gerüstet und glücklich“. Als dieser dann tatsächlich in den Automatismen der wechselseitigen Verpflichtungen anlief, herrschte allseits tiefe Ratlosigkeit.

„Die öffentlichen Reaktionen auf die Nachricht vom Krieg straften die Behauptung Lügen, die von den Staatsmännern so häufig geäußert wurde, dass die Entscheidungsträger nämlich von der öffentlichen Meinung getrieben worden wären.“ Der gleichwohl überall sichtbaren Bereitwilligkeit der Massen, in den Krieg zu ziehen, lag Clark zufolge ein „defensiver Patriotismus“ zugrunde. Überall wähnte man sich angegriffen, während die eigene Regierung bemüht gewesen sei, den Frieden zu bewahren. „So gesehen“, schließt Clark , „waren die Protagonisten von 1914 Schlafwandler – wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten.“ Serbien übrigens verschwand mit Kriegsbeginn aus der öffentlichen Wahrnehmung, als ob es den Mord von Sarajewo nie gegeben hätte.

– Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa 1914 in den Krieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013. 896 Seiten, 39,99 Euro.

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