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Foto: David Ebener/dpa

© picture alliance / dpa

Das Wesen von Schnee: Das Schreien der Kristalle

Schnee ist weiß wie die Unschuld, schwarz wie die Thermik – und im Berliner Winter dieser Tage erstmals zu sehen. Über das faszinierende Wesen eines ungleich verteilten Stoffs.

Das Leben ist nicht mehr dasselbe, wenn man mit einem Nivologen, einem Schneeforscher gesprochen hat. Eherne Gewissheiten schmelzen so geschwind dahin wie der Forschungsgegenstand in der Sonne.

Schnee ist kalt? Nein, er ist heiß.

Schnee ist weiß? Nein, er ist schwarz.

Und dann diese Sätze. Beispielsweise über Harsch. „Das ist eine dünne, gefrorene Kruste an der Schneeoberfläche. Tritt man darauf, kann das wie splitterndes Glas tönen, weil es zerbrechende Kristalle sind.“ Zwei Tage später, im tief verschneiten Allgäu, gleicht ein Schneespaziergang dem sprichwörtlichen Gang übers Nagelbrett. Jeder knirschende Schritt zerstört unzählige gefrorene Partikel. Das Schreien der Eiskristalle – wenn das kein guter Filmtitel ist. Und als wieder Flocken stöbern, reicht es, einfach nur die Arme auszustrecken, um auf dunklem Mantelärmel die kristalline Idealform zu entdecken: den filigranen sechsarmigen Dendriten, von dem das Volkslied erzählt.

„Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit? Du wohnst in den Wolken, dein Weg ist so weit. Komm setz dich ans Fenster, du lieblicher Stern. Malst Blumen und Blätter, wir haben dich gern.“

Die Kindergärtnerin und Lehrerin Hedwig Haberkern, hatte sicher nicht die Physik, sondern die Schönheit des Schnees und die Begeisterung ihrer Schützlinge im Sinn, als sie 1869 in Breslau unter dem Pseudonym „Tante Hedwig“ dieses Schneelied in einer ihrer Kindergeschichten erfand. Und doch hat sie in der Kombination der Begriffe „Weißröckchen“, einem sprechenden, schlesischen Synonym für Schneeflocke, und dem „lieblichen Stern“ viel über das ästhetische Wesen des Schnees gesagt. Es offenbart sich, wenn man der weißen Pracht, deren Zauber Dichter, Maler und auch Filmemacher quer durch die Jahrhunderte mehr fasziniert, als jedes andere Wetterphänomen, ein wenig näher tritt.

Lieblicher Stern. Ein Schneekristall, aufgenommen mit dem Makro-Objektiv.
Lieblicher Stern. Ein Schneekristall, aufgenommen mit dem Makro-Objektiv.

© Patrick Pleul/dpa

Menschen, die das beruflich tun, leben selbstverständlich nicht in Berlin, wo, wie der Volksmund weiß, der öffentliche Nahverkehr zusammenbricht, sobald eine Schneeflocke hochkant steht. Und sie sich – Fluch der flachen Lagen in Zeiten des Klimawandels – immer seltener blicken lassen. Sie arbeiten da, wo es im Winter schneesicher ist, also im Alpenstädtchen Davos, das auf knapp 1600 Höhenmetern liegt.

Das Wesen des mythischen Stoffs

Dort erhebt sich an der Straße, die zum Flüelapass hinauf und hinüber ins Unterengadin führt, ein sachlicher Bau aus Glas, Aluminium und Beton. Das ist die wohl weltweit renommierteste Schneeflockenuntersuchungsanstalt – das Schweizerische Institut für Schnee- und Lawinenforschung. Und weil selbst oben auf dem noch 1000 Meter höher gelegenen Weißfluhjoch, wo das Institut Vermessungsfelder unterhält, ständig wechselnde klimatische Bedingungen herrschen, wird in den Kältelaboren im Tal bei minus 25 bis minus 40 Grad mittels Maschine naturidentischer Schnee hergestellt. Dessen Mikrostruktur rücken der Schneephysiker Martin Schneebeli und sein Team, die von Davos aus bis nach Grönland und in die Antarktis ausschwärmen, auch mit hochauflösenden Computertomographen zu Leibe. Die gewonnenen Erkenntnisse über die Eigenschaften der Schneedecke und die Veränderung der Mikrostruktur während der sogenannten Metamorphose, der Umkristallisation eines Eiskristalls in ein neues, fließen in die Lawinenvorhersage und die Klimaforschung ein.

Kälteforscher. Martin Schneebeli, Physiker am Institut für Schneen- und Lawinenforschung Davos.
Kälteforscher. Martin Schneebeli, Physiker am Institut für Schneen- und Lawinenforschung Davos.

© Samuel Truempy

Und obwohl Martin Schneebeli im Gespräch ganz der bedächtige Schweizer ist, kennt er die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des mythischen Stoffes sofort. „Die extrem schnelle Veränderlichkeit“, sagt er und erläutert die unglaubliche Dynamik und Widersprüchlichkeit des Materials. Das Empfinden, dass Schnee kalt ist, sei ja eine rein physiologische Interpretation des Menschen, weiß Schneebeli. „Physikalisch betrachtet, ist Schnee ein heißes Material.“

Das meint, dass Schnee stets nah an seiner Schmelztemperatur von 0 Grad, also 273 Kelvin ist. Diese Nähe ist der Grund für die Veränderlichkeit der winzigen Eiskristalle, die immer hexagonal, also sechseckig sind. Keins gleicht dem anderen, denn jedes enthält rund 100 Trillionen unterschiedlich angeordnete Wassermoleküle. Mal sehen die Kristalle wie Stäbchen, mal wie Plättchen oder Sterne aus, wobei sie auf ihrem Weg aus den Wolken zur Erde auch die Form wechseln – oder sich zu jenen Flocken verkleben und verhakeln, die Wattebäuschen gleichen.

Die Metamorphose des Schnees setzt ein, sobald sich das weiße Tuch über die Landschaft legt. Die Eiskristalle wachsen zusammen, bilden eine poröse Masse von wechselnder Dichte. Während ein Kubikmeter Neuschnee so viel Luft enthält, dass er nur 50 bis 100 Kilogramm wiegt, können es bei altem Schnee gut 400 sein.

Seine poröse Beschaffenheit erklärt auch, warum der Schnee die Welt so still macht. Er dämmt, sagt Schneebeli. „Die Schallwellen, die durch die luftige Struktur des frischen Schnees hineingehen, kommen nicht mehr gut raus und werden vom Eis absorbiert.“

Der Schnee als Wüste - ein beliebtes literarisches Motiv

Buckelrelief. Hüttendächer auf der Riederalp im Schweizer Kanton Wallis.
Buckelrelief. Hüttendächer auf der Riederalp im Schweizer Kanton Wallis.

© Georgios Kefalas/KEYSTONE/dpa

So erstaunlich wie die akustischen und mechanischen, sind auch die optischen Eigenschaften des Schnees. Es gibt keine natürliche Oberfläche, die mehr sichtbares Licht reflektiert als frisch gefallener Schnee. Und obwohl Eiskristalle durchsichtig sind, erscheint der Schnee weiß, eben weil alle Farben des sichtbaren Lichts gleich stark reflektiert werden. „Doch im thermischen Spektralbereich, da ist er schwarz“, verblüfft Martin Schneebeli. Bei einer Wellenlänge, die zwanzig Mal länger ist als im sichtbaren Bereich, erscheint Schnee als „schwarzer Körper“, der fast hundert Prozent der einfallenden Temperaturstrahlung absorbiert.

Dass Künstler wie der in Berlin und Davos lebende Maler Ernst Ludwig Kirchner die verschneite Hochgebirgslandschaft in Rosatönen abstrahiert haben, ist nicht unbedingt ein Zeichen von künstlerischer Freiheit, sondern schlicht der von Schnee angenommene Farbton des Lichteinfalls beim Sonnenuntergang.

Dass der Schnee ein großer Abstrahierer ist, der vertraute Farben und Formen schluckt, hält der Physiker für sein größtes Faszinosum. „Kein anderes Material kann die Welt in so kurzer Zeit verändern.“ Und weil das Weiß, in das der Schnee die Welt taucht, eins mit Relief ist, nennt er ihn Wüstenphänomen.

Der Schnee als Wüste, als Landschaft, die man überleben muss oder in die man hinauszieht, um verändert, fast wie neu geboren wiederzukehren. Das ist ein Motiv, das unendlich viele Literaten zum Wesen des Schnees erklären. Auch der Davoser Hausheilige Thomas Mann, der sich von einem Sanatoriumsaufenthalt seiner Frau Katia zu seinem Roman „Der Zauberberg“ von 1924 inspirierten ließ.

Hans Castorp im weißen Nichts

Im zentralen Kapitel „Schnee“ schickt Mann seinen Helden Hans Castorp hinaus ins „weiße Nichts“, in die Orientierungslosigkeit eines Schneesturms, der ihn zeitweilig dem Tod näher als dem Leben sein lässt. Bevor der jedoch losbricht, erliegt der des Mikroskopierens kundige Held ganz und gar dem Zauber der Kristalle, den „Myriaden von Zaubersternchen“, der Idylle einer jede Hässlichkeit verdeckenden Harmonie, die sich aber von einer Sekunde zur nächsten in ein lebensfeindliches Chaos verkehrt. Denn die Metapher Schnee, die von Tieck und Hölderlin über Kafka, Nadolny, Grünbein, Pamuk bis zu Peter Hoegs „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ unzählige Eisblumen gemalt hat, ist als Projektionsfläche für alles gut.

Verschneit. Das Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos.
Verschneit. Das Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos.

© Ralph Feiner/SLF

Der Schnee ist Reinheit und Ekstase, Erneuerung und Auslöschung, unbehauste Leere und wärmendes Naturideal.

Oder wie es Martin Roussel, Germanist an der Uni Köln, mit den Worten des Schriftstellers Robert Walser sagt „ein prächtig wärmender Mantel“. Der Literaturwissenschaftler ist durch seine Promotion über den Schweizer Schriftsteller, der nach einem Herzschlag 1956 tot im Schnee aufgefunden wurde, erstmals auf das kristalline Motiv gestoßen und jetzt sowas wie der Nivologe unter den Literaturwissenschaftlern.

Für ihn ist der Schnee ein romantisches Motiv, das vor allem von der Heimkehr erzählt. Und von der Auslöschung der alten Welt, die durch die Macht der Fantasie in der vom Schnee leergefegten Welt dann wieder neu geboren werden kann. Das literarische Wesen des Schnees ist Verwandlung, ist Transformation. Wunderbar zusammengefasst sei das in einem Zitat von Theodor W. Adorno, sagt Martin Roussel: „Was ein Kind empfindet, das im Neuschnee seine Spuren hinterlässt, zählt zu den mächtigsten ästhetischen Triebkräften.“

So wie sich das Kind im Schnee als erster Mensch auf Erden fühlt, geht es auch dem Schriftsteller, der mit den Buchstaben das weiße Blatt füllt. Schneien ist auch eine Allegorie für Schreiben. Und die Eigenschaften des imaginierten Schnees erweisen sich als nicht ganz so weit entfernt von den physikalischen. Verwandlung ist immer auch Veränderung. Und wenn die Eiskristalle schmelzen und das, was verborgen war unter der Schneedecke hervorschaut, ist längst nicht sicher, ob alles so bleibt wie es war.

Mehr Informationen über Schnee und Permafrost beim Institut für Schnee- und Lawinenforschung Davos: www.slf.ch

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