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Das Van-de-Velde-Jahr: Ein Apostel der Ästhetik

Dem belgischen "Alleskönner" Henry van de Velde widmen sowohl Thüringen als auch Sachsen zum 150. Geburtstag zahlreiche Ausstellungen. Gefeiert wird ein Designer und Architekt europäischen Formats.

Kantig, ja trutzig wirkt von außen das Haus mit dem tief heruntergezogenen Dach, das Henry van de Velde sich und seiner Familie 1908 in Weimar errichtet hat, das „Haus Hohe Pappeln“. Der Charme des Gebäudes entfaltet sich ganz im Inneren, wo eine elegant geschwungene Treppe aus der überraschend wohnlich eingerichteten Halle ins Obergeschoss führt. Aus schön geschnittenen Räumen, repräsentativ, aber nicht einschüchternd, fällt der Blick ringsum in den Garten. Von außen wirken die mächtigen Travertin-Fassaden, als wollten sie Eindringlinge abwehren.

Es fällt schwer, das Haus stilistisch einzuordnen; eher ist es, wie ein damaliger Kritiker sagte, der „Stil des Vergessens aller Stile“. Van de Velde durchlitt eine tiefe Krise, als sein Mentor, Harry Graf Kessler, der ihn nach Weimar geholt und ihm das Direktorat der auf seine Anregung hin neu geschaffenen Kunstgewerbeschule angetragen hatte, beim jungen Großherzog Wilhelm Ernst in Ungnade fiel und Weimar verließ. Van de Velde jedoch beschloss zu bleiben.

Die Zeit um das Jahr 1900 markiert nicht allein den Übergang von einem alten in ein neues Jahrhundert. Für Deutschland bezeichnet sie einen kulturellen Epochenwechsel. Es galt, vom Historismus, dem Rückbezug auf vergangene Zeiten und Stile Abstand zu gewinnen. Synonym für diese Bestrebungen wurde der „Jugendstil“, der sich um die 1896 gegründete Münchner Zeitschrift „Jugend“ bildete, begrüßt als das lang ersehnte „Neue“. So auch im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach mit seiner Hauptstadt Weimar, das bis dahin ganz von der Erinnerung an frühere Glanzzeiten lebte, als dort mit Goethe und Schiller die klassische deutsche Literatur zu Hause war.

An diese Glanzzeit knüpfte der Diplomat Harry Graf Kessler an, der den Belgier Henry van de Velde 1902 nach Weimar holte. Van de Velde, 1863 in Antwerpen geboren, hatte zunächst Malerei studiert und sich dann ab 1893 erfolgreich dem Kunstgewerbe zugewandt. Ihm schwebte eine vollständige Erneuerung des Lebens vor, das auf Schönheit, auf Ästhetik gegründet sein sollte. Kessler erreichte die Gründung der „Großherzoglich Sächsische Kunstgewerbeschule Weimar“ mit van de Velde als Direktor, der zugleich die Gebäude der Schule entwarf. Van de Velde war in dieser Zeit um die Jahrhundertwende herum von ungeheurer Produktivität: Er entwarf nicht nur Bauten, sondern zugleich deren Ausstattung von den Möbeln bis zu den kleinsten Gebrauchsgegenständen. Und alles ordnete sich einer neuen Gestaltungsidee unter, beruhend auf der geschwungenen Linie. „Die Linie ist eine Kraft“, postulierte van de Velde.

Jetzt widmen ihm Thüringen und ein bisschen auch Sachsen ein ganzes „Van-de-Velde-Jahr“ unter dem hübschen Titel „Alleskünstler“. Im Mittelpunkt stehen die Museen der Klassik Stiftung Weimar, die eine umfassende Ausstellung zum Lebenswerk des „Alleskünstlers“ ausrichten, überschrieben mit „Leidenschaft, Funktion und Schönheit. Henry van de Velde und sein Beitrag zur europäischen Moderne“. Der Jugendstil in all seinen, durchaus widersprüchlichen Ausformungen ist längst Geschichte geworden, er hat den Ersten Weltkrieg nicht überdauert. Aber er hat die Tür weit aufgestoßen für die Moderne, für eine Kultur der Gegenwart, die keine Anleihen mehr nimmt bei vergangenen Formen und Stilen.

"Die Zeit des Ornaments ist vorbei"

Van de Velde, der im Jugendstil wurzelt, geht zugleich weit über ihn hinaus – „Die Zeit des Ornaments aus Blüten, Haaren und Weibern ist vorbei“, grenzte er sich deutlich von der Dekorationslust des Jugendstils ab. Als Beförderer des Übergangs erst vom Historismus in den Jugendstil und aus diesem gleich wieder hinaus und in die Moderne des 20. Jahrhunderts ist van de Velde, der in Berlin, Weimar, in den Niederlanden und schließlich im heimatlichen Belgien in Gent und Antwerpen wirkte, eine Figur von europäischer Bedeutung.

Im Neuen Museum Weimar – einem Neorenaissance-Bau von 1869 – sind die Möbel, Geschirre, Stoffdesigns van de Veldes versammelt, dazu in Fotografien die Architektur, die zum wichtigsten Betätigungsfeld des Autodidakten wurde. In Mitteldeutschland ist eine ganze Reihe seiner bis ins Detail durchdachten Villen erhalten, die er für wohlhabende, dem Neuen gegenüber aufgeschlossene Bauherren errichten konnte. Und Weimar besitzt mit dem Nietzsche-Archiv zudem eine öffentliche Einrichtung, deren Ausstattung unverändert erhalten ist und seit nun 110 Jahren unverändert ihre Gebrauchstüchtigkeit demonstriert.

Was van de Velde und seine wohlhabenden Auftraggeber unter einem Leben in Schönheit und Harmonie verstanden, zeigt am besten die herrliche Speisetafel, die im größten Saal des Museums aufgebaut ist, für zehn illustre Gäste mit elegantem, in blauen Linien abstrakt geschmücktem Geschirr und feinsten Silberwaren, alles von dem Belgier entworfen, der erst in Deutschland ein aufgeschlossenes Publikum fand.

Die Großherzogliche Kunstschule und ihr in der offiziellen Rangordnung minder angesehenes Schwesterinstitut, die Kunstgewerbeschule, verdanken van de Velde Gebäude, die bis auf den heutigen Tag wunderbar zu nutzen sind. Helle Ateliers mit in die Dachschräge übergehenden Metallrahmenfenstern, die der Selfmade-Architekt aus Belgien kannte und von dort importieren ließ, boten Malern und Bildhauern ideale Bedingungen. In dem ursprünglich fensterlosen, allein durch einen gläsernen Deckenspiegel belichteten Festsaal, in dessen Außenwand zu Lüftungszwecken alsbald ein Fenster gebrochen werden musste, versammeln sich bis heute die Angehörigen des Design-Fachbereichs der Bauhaus-Universität, zu deren in Weimar verteilten Standorten das um einen geradezu intimen Platz geordnete Kunstschul-Ensemble zählt.

Walter Gropius, 1915 in einer letzten Amtshandlung vom scheidenden Direktor van de Velde als Nachfolger vorgeschlagen und tatsächlich berufen wurde, brauchte hier mit seiner Neugründung des „Bauhaus“ genannten Instituts nur einzuziehen und fand ideale Bedingungen für die Frühphase das zunächst auf Handwerk und Künstlertum ausgerichteten Bauhauses vor.

Van de Velde musste im Ersten Weltkrieg Deutschland verlassen, er ging zunächst in die Schweiz, dann in die Niederlande und wurde erst 1925 wieder in Belgien tätig, als Professor in Gent. Die Luxusproduktion aus individuell gefertigten Einzelstücken überlebte sich mit dem Krieg und der Verarmung Europas. Niemand konnte und wollte Herrenzimmereinrichtungen bestellen, die so viel kosteten wie ein einfaches Einfamilienhaus. Van de Veldes Weimarer Wohnhaus, für seine mit fünf Kindern gesegnete Familie plus standesgemäßer Dienstmädchen errichtet, ging 1917 in den Verkauf.

Wegbereiter der Moderne

Aber van de Velde erkannte die Zeichen der Zeit. Eine nüchternere, sachlichere Gestaltung war jetzt gefragt. Die späten Bauten, die er sei’s für sich selbst entwarf – das vierte Eigenheim seines Lebens von 1927/28 nannte er „La Nouvelle Maison“ –, sei’s für den belgischen Staat, sind unaufdringlich, verraten aber in ihren Details jenes untrügliche Gefühl für Eleganz und Harmonie, mit dem van de Velde einst die ganze Welt zum Besseren führen wollte. Die belgischen Pavillons, die er für die Weltausstellungen in Paris 1937 und zwei Jahre später in New York entwarf, heben sich angenehm von dem monumentalen Klassizismus ab, den nicht nur die Diktaturen in Nazi-Deutschland und Stalin-Russland hervorkehrten, sondern der auch in demokratischen Staaten wie Frankreich zum Zeitstil avanciert war.

Für die belgischen Staatsbahnen entwarf van de Velde 1933/34 das bekannte, bauchige „B“ und die Abteile der Reisezugwagen, dazu das Geschirr des Speisewagens, der damals noch nicht zum „Bordbistro“ verkümmert war. Höchst elegant sind seine Schiffs-Interieurs, die er für die Fährschiffe der Verbindung Ostende-Dover, „Prince Baudouin“ und „Prince Albert“, in den dreißiger Jahren ausführen konnte – gemäßigtes Art Déco in wie bei ihm immer edlen Materialien. Im Möbeldesign allerdings erreichte er die Qualität der Weimarer Vorkriegsproduktivität oft nicht mehr, wie an den Entwürfen von Armlehnsessel und Beistelltischchen von 1929 zu erkennen ist.

Da waren das Bauhaus und die holländischen Gestalter wie Mart Stam oder Gerrit Rietveld einfach besser, besser im Material von Stahlrohr und besser im zugleich kantigen wie gerundeten Funktionalismus. Der Schwung der Linie, die van de Veldes ureigenen Beitrag zum europäischen Design darstellt, ließ sich besser in ergonomisch gebogene Schreibtische und Fauteuils wie jene von 1903/04 überführen als in das neusachliche Serienmobiliar ornamentloser Würfelhäuser, das die jüngeren Konkurrenten als Leitbild etablierten.

„Henry van de Veldes Werk wird immer ein Wunder bleiben“, schreibt Thomas Föhl, der Kurator der Weimarer Ausstellung, in dem hervorragenden, materialgesättigten Katalog, „es entstand aus dem steten Kampf gegen die Hässlichkeit seiner Umwelt.“ Und an anderer Stelle: „Er selbst sah sich als Apostel dieser ästhetischen Zukunft" – gemeint: der Moderne –, „als ein Prophet des Übergangs von einer erschöpften Ära des Historismus zu einem Neuen Stil, der dem ,Neuen' Menschen Friedrich Nietzsches entsprechen sollte.“

Dass sich der „Neue“ Mensch und mit ihm der neue Stil nun ausgerechnet im denn doch provinziellen Weimar herausbilden sollte, gehört zu den Irrtümern der Kulturgeschichte. Die Moderne kam anderenorts zum Durchbruch, und ihr Problem war nicht der Kampf der Schönheit gegen die Hässlichkeit, sondern die Gestaltung für eine auf Technik und Industrie beruhenden Massengesellschaft. Immerhin für einige Jahre jedoch fand der unverdrossene Belgier in Weimar sein Publikum und seine Käuferschaft, der er so schöne Häuser baute wie die äußerlich unveränderte Villa „Haus Henneberg“ von 1914. Sie ist im Van-de-Velde-Jahr allerdings nicht zu besichtigen: Die Leitung des darin untergebrachten Waldorf-Kindergartens sieht sich durch Besuch unziemlich belästigt. So hatte sich der Architekt den Sieg der Schönheit freilich nicht vorgestellt.

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