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Am Rand der Gesellschaft. Hasan Taegin spielt einen der Inhaftierten.

© Graziela Diez

Das Leben junger Strafgefangener: Mandelblättchen rösten im Gefängnis

Schiefe Bahn und bleibende Sehnsüchte: Adrian Figueroas mitreißendes Stück „Stress“ im HAU eröffnet neue Perspektiven auf das Leben junger Berliner Strafgefangener.

Ob man von diesen Jungs was lernen kann? Allerdings. Zum Beispiel, wie man eine perfekte Marzipanmousse mit Schokoladensauce herstellt. Die Mandelblättchen müssen zum Beispiel haselnussbraun geröstet werden, nicht goldbraun. Und der Mandellikör sollte aus der Algarve kommen, ist eine besondere Sorte. Und Himalayasalz sollte es sein, kein gewöhnliches. „Das würde ich dir gerne beibringen“, sagt der jugendliche Straftäter.

Nun sind kulinarische Feinheiten nicht unbedingt das, was man als Spezialgebiet von Kriminellen annehmen würde. Aber damit sind wir bereits bei der entscheidenden Frage: Welchen Blick haben wir auf junge Menschen, die straffällig geworden sind? Und wodurch wird der beeinflusst? Zu einem nicht geringen Teil wohl durch die alarmistischen Schlagzeilen des Boulevards, in denen es vor erschreckenden Gewaltstatistiken, skrupellosen Jugendgangs und brutalen Intensiv-Tätern wimmelt, die sich angesichts unserer laschen Justiz ins Fäustchen lachen.

Stück basiert auf Interviews

Mit dieser Perspektive bricht das Stück „Stress“, das Adrian Figueroa im HAU zeigt. Der Regisseur, der am Ballhaus Naunynstraße die großartige Performance „One Day I went to *idl“ mit der Akademie der Autodidakten entwickelt hat – arbeitet seit mehreren Jahren auch mit dem Gefängnistheaterprojekt Aufbruch. „Stress“ nun basiert auf Interviews, die Figueroa mit Inhaftierten der Jugendstrafanstalt Berlin geführt hat. Daraus haben der Regisseur und Dramaturg Tunçay Kulaozlu eine Textfassung destilliert, die vielschichtig und mitreißend von schiefen Bahnen und verbliebenen Sehnsüchten erzählt.

Auf einer Bühne mit rückwärtigen, zellenartigen Plexiglaskästen (Irina Schicketanz) teilen sich die vier Schauspieler Nyamandi Adrian, Lukas Steltner, Hasan Taegin und Paul Wollin diese Berichte über Ängste, Opfer, Verbrechen, familiäre Verwerfungen, Verhöre und Marzipanmousse – mit einer hohen Grundenergie, die Kadir Memie immer wieder zu ausbruchswütigen Choreografien formt.

Es hat schon Sinn, dass hier Profis die Texte sprechen, anders als sonst in Aufbruch-Arbeiten, wo die jugendlichen Gefangenen selbst auf der Bühne stehen. Denn es schafft Distanz und ein genaueres Hinhören. Man forscht erst gar nicht in den Gesichtern, wer wohl welches Verbrechen begangen haben könnte.

So bleibt Raum, auch die Verfehlungen ungeschönt zu thematisieren. Schlägereien, Ausraster, Betrug. „Stress“ verkitscht die Straftäter eben nicht zu irregeleiteten Schäfchen. Aber das Stück lässt in die Welt der Jugendlichen blicken. Auch dorthin, wo die Logik hakt. „Wenn Mama Menschenleben rettet und keinen Mercedes fährt, ja, und der Typ, der Kokain verkauft irgendwo in Eberswalde ’ne Villa besitzt, dann stimmt da irgendwas nicht“. Empathie weckt der Abend allemal. „Fang noch mal an“, lautet der letzte Satz.

Wieder am 11. Dezember, HAU3

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