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Das alte Edo, spätere Tokyo: Von der Macht des Bürgertums

Händler und Kaufleute hatten im 17. und 18. Jahrhundert in Edo Voraussetzungen für eine blühende Kultur geschaffen.

Hektisches Treiben herrscht trotz sommerlicher Hitze in der Straße, die gesäumt von laternengeschmückten Buden zum Sensoji-Tempel in Asakusa führt. Vor dem Weihrauchbrenner spenden die Menschen großzügig, verbrennen Räucherware, um sich zu reinigen. Der Tempel mit seiner riesigen Laterne ist jetzt um Obon, das japanische Totenfest, voller bittender, spendender und betender Menschen; die buddhistischen Horoskopstäbe sind in diesen Zeiten besonders gefragt. Der Asakusa-Tempel – wie er umgangssprachlich auch genannt wird – mit seiner weltlichen und geistlichen Geschäftigkeit ist populär in Tokyo. Er ist wahrscheinlich der einzige Ort, an dem sich vage etwas vom Lebensgefühl des alten Edo ahnen lässt. Modernisierung und Fliegerbomben hatten der Stadt von einst zugesetzt, und auch der perfekt scheinende Asakusa-Tempel ist nur eine Stahlbetonrekonstruktion von 1960.

Was das alte Edo und spätere Tokyo, wie es vom Kaiser nach 1868 genannt wurde, ausgemacht hat, lässt sich heute nur noch auf den farbigen Holzschnitten japanischer Großmeister wie Katsushika Hokusai (1760-1849) und Utagawa Hiroshige (1797-1858) erahnen, um nur die Bedeutendsten zu nennen. Gerade der Holzschnitt hatte enorm zur Popularität japanischer Kunst in Europa beigetragen. Die Ukiyo-e, die „Bilder der vergänglichen Welt“ sind eine zutiefst bürgerliche Kunst, die ein selbstbewusstes und erstarktes Bürgertum hervorgebracht und gekauft hat. Sie ist Ausdruck einer blühenden Epoche bürgerlicher Kultur in Japan, die auch die ersten Europäer sofort begeistert hat. Diese Kunst war der Gegenpol zur höfischen, reglementierten Welt am machtlosen Kaiserhof von Kyoto.

Japan hatte eine lange Zeit des Bürgerkriegs erlebt, eine Epoche, die erst der Shogun Tokugawa zu Anfang des 17. Jahrhunderts erfolgreich beendet hatte. Er installierte sich neben dem Kaiser als obersten Kriegsherren und begründete die Herrschaft des Schwertadels, der Samurai, die fortan in den Städten und Burgen – fern von ihren Dörfern – lebten. Unter den Tokugawa-Shogunen isolierte sich Japan von der Außenwelt, ließ außer den Handel treibenden Niederländern keine Ausländer mehr ins Land. Damit die einzelnen Fürsten nicht zu mächtig wurden, mussten sie in der neuen Residenzstadt des Shoguns – Edo, dem heutigen Tokyo – alle zwei Jahre ihre Aufwartung machen. Das erforderte einen aufwendigen Lebensstil, Hofhaltung mit allem, was dazugehörte. Das wiederum beförderte die Wirtschaft Edos. Handwerker und Künstler bekamen Aufträge, Händler und Kaufleute wurden immer wichtiger, um die wachsenden Bedürfnisse in der sich rasch entwickelnden Stadt zu befriedigen.

Die Folge war eine starke Segmentierung der Bevölkerung: Der einst mächtige Schwertadel war von seinen Pfründen zunehmend getrennt und verarmte, während die Kaufleute und Händler für die Versorgung der wachsenden Städte – Edo zählte 1721 mehr als eine Million Einwohner – an Bedeutung und damit an Geld und Einfluss gewannen.

Sie interessierten sich für Zerstreuungen aller Art, Literatur und Theater florierten, die Darstellung eben dieser städtischen Welt auf farbigen Holzdrucken wurde sehr populär. Dazu gehörten auch die zahlreichen Freudenhäuser, die besonders in der Nähe der großen Tempel gut gediehen, denn geistiges und körperliches Wohl waren den Bürgern von Edo gleichermaßen wichtig. Die Künstler griffen diese Themen auf. Bordellszenen, Theaterszenen, ja Schauspielerporträts – sozusagen als Starschnitt – trugen zur Popularität des Kabuki-Theaters bei. So entfaltete sich eine Kultur mit einer reichen Literatur- und Druckproduktion, die der herrschenden Oberschicht im fernen Kyoto fremd war. Fliegende Händler verkauften Bücher und Drucke im ganzen Land.

Mit den ersten Europäern in holländischen Diensten, etwa Engelbert Kampfer und Philipp Siebold, gelangten diese Holzschnitte der verschiedenen Künstler auch in europäischen Besitz. Sie wurden gesammelt und waren – vor der Erfindung der Fotografie – die ersten bildlichen Boten einer faszinierenden fremden Welt.

Die Holzschnitte befeuerten aber auch die einheimische Konjunktur. Die prächtig gekleideten Frauen auf den Darstellungen setzten Modetrends, immer kostbarere und feinere Stoffe wurden verlangt. Damit man die Pracht auch auf der Straße sehen konnte, wurden allmählich die Fackeln auf den Straßen durch Papierlaternen ersetzt, wie wir sie heute noch in der Ladengasse vor dem Asakusa-Tempel sehen können. Das bedeutete wiederum eine gesteigerte Nachfrage nach Rapsöl für die Lampen, was Folgen für die Landwirtschaft hatte.

Die Zentralregierung versuchte immer wieder, dem luxuriösen Treiben in den Städten durch strenge Vorschriften Einhalt zu gebieten. Doch sie war machtlos gegenüber einem wohlhabenden Bürgertum, das eine Kultur hervorbrachte, in der es selber vorkam – in Romanen und Theaterstücken, in Gedichten und auf Bildern, die den Moment einer „vergänglichen Welt“ dann doch für die Ewigkeit festhalten.

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