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Der Schweizer Autor Tim Krohn

© Susanne Schleyer

Crowdfunding-Roman von Tim Krohn: Enzyklopädie der Gefühle

Tim Krohns Crowdfunding-Roman „Erich Wyss übt den freien Fall“ porträtiert die Bewohner eines Züricher Mietshauses.

Es begann mit einem Badezimmer. Der Schriftsteller Tim Krohn lebt im abgeschiedenen Münstertal im Schweizer Kanton Graubünden, in einem soliden, alten Steinhaus. Als seine schon etwas gebrechliche Mutter in das Haus zog, musste ein altersgerechtes Badezimmer her, Kostenpunkt: etwa 50 000 Franken. Also startete Tim Krohn ein höchst ungewöhnliches Crowdfunding-Projekt.

Er begann, menschliche Regungen zu verkaufen, einem alten Plan folgend, den er schon lange hegte und aus dem eine Enzyklopädie der Gefühle entstehen sollte. Gemütlichkeit, Genusssinn, Perfektionismus, Seelenverwandtschaft, Weitsicht. Wenn ein Geldgeber eine der Regungen im Netz erstanden hatte, schrieb Tim Krohn eine passende Geschichte dazu. Das Geld für das Badezimmer war schnell beisammen die Nachfrage nach Geschichten allerdings noch nicht gestillt. Mittlerweile ist der Gefühlskiosk auf Krohns Homepage www.menschliche-regungen.ch geschlossen, weil mehr als zweihundert Texte fertig sind.

Krohn hat für seine Geschichten einen zentralen Ort und ein klar eingegrenztes Personal gefunden. An seinen Figuren exerziert er das Gefühlsleben durch. Zwei Romane, die in Short-Cuts-Technik erzählt sind, sind bereits erschienen, der dritte soll im Frühjahr folgen. Der Schauplatz ist ein Ausweis bürgerlicher Normalität: Elf Menschen leben in einem Mietshaus in der Röntgenstraße in Zürich. Studenten. Ein altes Ehepaar, das in täglichen Ritualen miteinander verbunden ist und zum Beispiel so vorgestellt wird: „Gerda und Erich Wyss warteten in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung schon länger auf den Tod, der sich nicht einstellen wollte.“ Eine Schauspielerin. Eine allein erziehende Lektorin, der gerade ein wichtiger Auftrag weggebrochen ist und die die Bekanntschaft eines undurchsichtigen Schlossbesitzers macht. Efgenia und Adamo, die einen Pornofilm synchronisiert haben und nun versuchen müssen, die Kopien an den Mann zu bringen.

Menschlichkeit als literarische Kategorie

Tim Krohn spinnt daraus ein Netz aus Zu- und Abneigungen, Freundschaften, Abhängigkeiten, Konflikten, kurzen Begegnungen. Das hat in seiner seriellen Machart durchaus etwas von einer Soap Opera, nur ist es eben zu keinem Zeitpunkt über die Maßen schlicht oder banal. Krohn hat ein gutes Gespür für Zwischentöne. Und er ist vor allem ein Autor, der sich seinen Figuren mit Empathie nähert. Menschlichkeit ist im Romankosmos des Tim Krohn durchaus eine literarische Kategorie.

„Herr Brechbühl sucht eine Katze“, der erste Band, setzt zum Jahrtausendwechsel ein; der Nachfolger „Erich Wyss übt den freien Fall“ spielt vom Sommer bis in den Winter des Jahres 2001 und umfasst mithin ein so epochales Ereignis wie das Attentat auf das World Trade Center: „Irgendwann zwischen der Morgen- und der Abendprobe hörte jeder vom Attentat, und alle kamen sofort in die Kantine, starrten auf den Fernseher und sahen zu, wie die Türme brannten.“ Tim Krohn bringt auf diese Weise Welthaltigkeit in seinen Roman und konfrontiert sein in individuelle Nöte verstricktes Personal mit den Erschütterungen der Zeit. Das Bemerkenswerte an Krohns Projekt ist, dass es trotz seines schematischen Ausgangspunktes keinerlei Stereotypen produziert. Die Konstruktion läuft zwar immer mit, gerät aber schnell in Vergessenheit.

Balance zwischen Realismus und Komik

Nebenbei wird „Erich Wyss übt den freien Fall" auch zu einer Studie über Arbeit, soziale Konstellationen und ökonomische Knappheit in einem Land, das von außen betrachtet als Wohlstandsparadies gilt: „Wenn Selina May den Januar 2001 in ihrer Agenda aufschlug“, heißt es gleich im zweiten Kapitel des ersten der beiden Bände unter der Überschrift „Kunstsinn“, „sah sie nur weiß. Das Jahrtausend als arbeitslose Schauspielerin im neblig kalten, bestenfalls mit einer Handbreit Schneematsch überzogenen Zürich zu beginnen, war nicht schön.“

Tim Krohn gelingt es so auf verblüffende Weise, die Balance zu halten zwischen seinem realistischem Anspruch und der Komik, die aus der Typenhaftigkeit der jeweiligen Charaktere heraus entsteht.

Tim Krohn: Erich Wyss übt den freien Fall. Roman. Galiani Verlag, Berlin 2017, 496 Seiten, 24 €.

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