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Immens dynamisch: Eine Szene aus dem besprochenen Band.

© Illustration: Splitter

Sherlock-Holmes-Hommage: Im Zeichen der Vier

Der Sherlock-Holmes-Comic-Pastiche „Die Vier von der Baker Street“ kann Hardcore-Holmesianer ebenso überzeugen wie sporadische Sherlockianer - durch Tempo, Witz, Atmosphäre und tolle Zeichnungen.

Die Straßen des Viktorianischen Londons sind ein gefährliches Pflaster, wie nicht nur Robert Downey Jr. seit Anfang des Jahres weiß. Am helllichten Tag werden hier sogar Menschen entführt! Und das im Herzen des Empires ... skandalös. Nur gut, wenn diese Menschen einen mehr oder weniger strahlenden Ritter haben, der sie sofort wieder aus den Klauen ihrer skrupellosen, habgierigen und durch und durch amoralischen Mitmenschen befreien möchte - koste es, was es wolle. Also fürchte dich nicht, von rauen Männerhänden in die Droschke gezerrtes Blumenmädchen, Rettung ist unterwegs!  

Klingt nach einem Job für Sherlock Holmes oder viel mehr seinen schreibenden Sidekick Dr. John Watson, nicht wahr? Nun, nicht ganz... 

Zu Besuch in der Baker Street 221 B

Denn wie der Titel der neuen Comic-Reihe beim stets so ambitionierten Bielefelder Splitter-Verlag bereits richtig vermuten lässt, steht in „Die Vier von der Baker Street“ keineswegs Conan Doyles berühmter Meisterdetektiv im Vordergrund (und auch nicht der ebenso gutmütige wie ritterliche Dr. Watson), sondern eben die Baker-Street-Bande. 

Pastiches, hochachtungsvolle Parodien, die sich mit Wiggins und anderen Mitgliedern von Sherlock Holmes' jugendlichen Hilfssherriffs, eifrigen Boten und unauffälligen Beschattern aus Londons Gassen und Gossen um die Jahrhundertwende beschäftigen, gab es in den vergangenen Jahren zu Genüge, gerade im Jugendbuchbereich - „Das Geheimnis des Blauen Vorhangs“ ist jedoch der mit Abstand beste und unterhaltsamste. 

Gefährliches Pflaster: Eine weitere Szene aus dem Buch.
Gefährliches Pflaster: Eine weitere Szene aus dem Buch.

© Illustration: Splitter

Der frankobelgische Comic-Held Régis Loisel verspricht in seinem Vorwort zum ersten Band keineswegs zu viel, wenn er das ungemein spritzige und erfreulich kanonfeste Comic-Werk aus der Feder von J. B. Djian und Olivier Legrand und mit den fantastischen Zeichnungen von David Etien in den höchsten Tönen lobt. Toll geschrieben, durchgehend flott erzählt und von einigen äußerst liebenswerten Charakteren bevölkert, überdies wunderschön und immens dynamisch gezeichnet: da gibt es nichts zu meckern und umso mehr zu bestaunen (das Staunen fängt ja schon mit dem Cover an, das die Helden zwischen den Schornsteinen und Dächern über der Metropole an der Themse zeigt). Darüber hinaus ist das erste Album um die Vier auch noch geschickt in das atmosphärische viktorianische Setting und den Holmes-Kosmos eingebettet - am Ende besuchen wir ja sogar die legendäre Baker Street 221 B und die beiden nicht weniger legendären Mieter von Mrs. Hudson!  

Augenzwinkernde Hommage an den Mythos

In den Heiligen Hallen, die schon so viele interessante Besucher und Extravaganzen des Detektivs gesehen haben, liegt dann auch der einzige Kritikpunkt am ersten Hardcover, und er könnte verzeihlicher kaum sein: Den Deerstalker auf der Stuhllehne am Bildrand hätte es nämlich nicht unbedingt gebraucht. Aber das ist wahrlich nur eine Kleinigkeit, zumal das vom klassischen Holmes-Illustrator Sidney Paget initiierte Klischee mit der Jagdkappe einfach seit über einem Jahrhundert verteufelt mächtig und entsprechend weit verbreitet ist. Vermutlich hätte vielen Nicht-Holmesianern sogar etwas gefehlt, wenn sie die Wohnung der beiden Langzeit-Junggesellen betreten hätten und die elende Mütze nicht irgendwo rumgelegen wäre. Verbuchen wir es als augenzwinkernde Hommage an den Mythos und ergötzen wir uns dafür lieber an der mindestens genauso augenzwinkernden Spider-Man-Referenz, als sich einer unserer jugendlichen Helden durchs Treppenhaus eines Londoner Bordells für reiche, feine Herren schwingt, um seine Prinzessin zu retten, deren Unschuld verschachert werden soll.  

Am Ende ist der erste Fall gelöst, und der größte aller Detektive spricht sogar sein Lob aus, nicht ohne auf die Bitterkeit des Triumphes zu verweisen, wie das eben sein muss.  

Trotzdem: ein hervorragender, unbedingt empfehlenswerter Einstand für die Vier von der Baker Street. Pflichtlektüre für jeden Holmes-Fan - und letztlich auch für jeden, der richtig gute Comics mag, die einen von der ersten bis zur letzten Seite begeistern und mitreißen. 

Jean-Blaise Djian, Olivier Legrand (Autoren) und David Etien (Zeichner): Die Vier von der Baker Street: Das Geheimnis des blauen Vorhangs, Band 1 von 4, Splitter-Verlag, übersetzt von Tanja Krämling, 56 Seiten,13,80 Euro. Leseprobe unter diesem Link.

Unser Autor Christian Endres schreibt nicht nur regelmäßig für die zitty und diverse Comic-Verlage, sondern ist auch begeisterter Holmesianer. Seine Pastiche-Sammlung „Sherlock Holmes und das Uhrwerk des Todes“ erschien 2009 im Atlantis Verlag. Der Text erschien zunächst im Blog des Autors: www.christianendres.de.

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