zum Hauptinhalt
1. November 1988: Eine Szene aus dem ersten Sammelband von "Paper Girls".

© Cross Cult

Science-Fiction-Comic „Paper Girls“: Zurück in die Zukunft

Halloween hat’s in sich: In „Paper Girls“ von Brian K. Vaughan und Cliff Chiang bekommen es die jugendlichen Heldinnen mit einer Alien-Invasion zu tun.

Wie der Milchmann und der Besitzer des Drugstores um die Ecke gehören die „Paper Boys“ zu den Standardfiguren der klassischen amerikanischen Alltagskultur. Wenn alle noch schlafen, sind sie schon unterwegs und werfen im Vorüberradeln schwungvoll die Zeitungen vor die Häuser. So lässt sich das Taschengeld aufbessern oder, falls nötig, etwas zum Unterhalt der Familie beitragen. Das ist, wegen des Abenteuer-Faktors, ein klassischer Job für Jungs; hier sind es allerdings vier 12-jährige Mädchen, die sich in der Dämmerung einen schweren Sack über die Schulter legen, um in der Kleinstadt Stoney Stream den „Cleveland Preserver“ auszufahren.

Flugsaurier und außerirdische Kämpfer

Brian K. Vaughan – bekannt als Autor von „Y – The Last Man“ und „Saga“ – charakterisiert jede von ihnen schnell und geschickt mit ein paar Strichen, um, bei allen Gemeinsamkeiten, ihre soziale und ethnische Diversität zu markieren. Mac, aus schwierigen Verhältnissen stammend, ist eine coole, latent aggressive Kettenraucherin. Tiffany, eine Latina, und KJ, eine Jüdin, kommen aus besseren Familien. Erin ist das amerikanische Durchschnittsmädchen – allerdings hat sie merkwürdige Alpträume, in denen sie im All einer toten Astronautin begegnet und in der Hölle anschauen muss, wie der Teufel ihre kleine Schwester quält.

Alpträume: Eine Seite aus dem ersten Sammelband von "Paper Girls".
Alpträume: Eine Seite aus dem ersten Sammelband von "Paper Girls".

© Cross Cult

An diesem frühen Morgen des 1. November 1988 beschließen die Mädchen, ihre Route gemeinsam zu absolvieren. Es ist schließlich Halloween, und da ist es möglich, Typen zu begegnen, die, von ihren Horror-Masken inspiriert, ein unangenehmes Verständnis von Spaß haben. Aber dann passieren weit dramatischere Dinge. Der Himmel färbt sich apokalyptisch rot und reißt buchstäblich auf. Gestirne und Galaxien, die zuvor nicht sichtbar waren, erscheinen; Scharen von Flugsauriern, auf denen Außerirdische sitzen, machen Jagd auf andere Außerirdische. Und alle Menschen außer den „Paper Girls“ sind verschwunden oder lösen sich buchstäblich in Luft auf.

Wie J. J. Abrams Film „Super 8“ (2011) oder die aktuelle Netflix-Produktion „Stranger Things“ gönnt sich auch diese SF-Serie eine gehörige Dosis Retro-Flavour. Vaughan ist allerdings so klug, den Fallen, die ein derartiges Projekt bereithalten kann, aus dem Weg zu gehen. Die Story ist ihm stets wichtiger als die Referenzen, von denen er zudem die offensichtlichen vermeidet. In Erins Zimmer hängt eben kein Poster von „E.T.“ oder der „Goonies“, sondern der weit weniger bekannten Horror-Komödie „Monster Squad“.

Schlittschuhlaufen mit Ronald Reagan

Anderes für die Achtziger Zeittypische taucht nur in ganz knappen Anspielungen oder verschlüsselt auf. So deliriert Erin etwa, von einer Kugel im Bauch getroffen, dass sie mit Ronald Reagan auf einem vereisten See Schlittschuh läuft. Der joviale, gut gelaunte Präsident zeigt auf eine blutende Wunde unter seinem Sakko und versichert dem Mädchen, dass man nicht an jeder Schussverletzung sterbe – so wie es bei ihm auch nicht der Fall war, als 1981 ein Attentat auf ihn verübt wurde. Über den beiden vernichtet währenddessen eine Art Space Shuttle mit Hilfe von Laserstrahlen heransausende sowjetische Atomraketen – genau dies plante Reagan mit seiner utopischen, gemeinhin als SDI abgekürzten „Strategic Defense Initiative“.

Fortsetzung folgt. Das Cover des ersten Sammelbandes von "Paper Girls".
Fortsetzung folgt. Das Cover des ersten Sammelbandes von "Paper Girls".

© Cross Cult

Sehr gut auch: Vaughan kommt nicht der naheliegenden Versuchung nach, seine Heldinnen mit dem Bewusstsein heutiger Jugendlicher auszustatten. Sie sind alle starke Mädchen, gewiss: Mac war in ihrem Ort das erste „Paper Girl“, und bei keinem der vier gibt es ein männliches „love interest“. Sie stehen alle für sich, definieren sich nicht über die Beziehung zu einem Jungen. Aber sie sind doch ein wenig naiver, als es heute der Fall wäre – und stärker von Vorurteilen belastet: Wenn Mac einen ekelhaften, aggressiven Halbstarken im Freddy Krueger-Kostüm vertreibt, sind die schlimmsten Schimpfwörter, die ihr offenbar in den Sinn kommen, „Schwuchtel“ und „AIDS-Patient“.

Kleinstädtisches trifft auf Kosmisches

Der größte Reiz liegt liegt aber darin, dass hier extreme Gegensätze aufeinander treffen. Kleinstädtisches verbindet sich mit Kosmischem, Alltägliches mit Bewusstseinssprengendem, auch in dem hervorragenden Artwork. Die flächigen Zeichnungen von Cliff Chiang („Wonder Woman“) und die ungewöhnlich gelungene Kolorierung von Matt Wilson, die fast ausschließlich mit Schattierungen von Blau, Rosa und Lila arbeitet, sind einerseits wieder der Achtzigern verpflichtet. Andererseits haben die Traum- und Invasionsszenen eine halluzinatorische Qualität, die an die besten Momente von Charles Burns erinnert.

In den USA sind bislang 13 Ausgaben von „Paper Girls“ erschienen; die Buchausgabe versammelt davon die ersten fünf. Sie endet mit einem Sprung in das Jahr 2016 und einem Cliffhanger, der nicht nur spektakulär ist, sondern erwarten lässt, dass die Handlung in ihrem Verlauf eine weitere, menschliche Dimension, die sich bislang nur andeutete, gewinnen wird.

Der Hype um diese Serie mag groß sein – aber, anders als in vielen anderen Fällen: Er ist völlig berechtigt.

Brian K. Vaughan & Cliff Chiang: Paper Girls, Band 1, CrossCult, 144 Seiten, 22 Euro.

Christoph Haas

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false