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Nachwuchs mit übersinnlichen Kräften: Eine Szene aus "Der große Tote".

© Egmont Comic Collection

Neue Comics von Régis Loisel: Loisel und wie er die Welt sah

Der französische Comic-Altmeister Régis Loisel beendet sein Dorf-Drama „Das Nest“ und gibt mit der Fantasy-Serie „Der große Tote“ neue Rätsel auf.

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Die Erde bebt, Europas Städte sind verwüstet und irgendwie hängt das damit zusammen, dass in der von den „Kleinen Leuten“ bewohnten Parallelwelt ein hermaphroditischer Priester ein doppeltes Spiel trieb. Der paarte sich erst mit einer Frau und dann mit einem Mann aus dem Reich der Menschen.

Wer sich auf die Comicreihe „Der große Tote“ einlässt, sieht sich durch ein wildes Gemisch unterschiedlichster Genres und Erzählebenen herausgefordert. Als Belohnung gibt es eine Geschichte, die mit jeder Folge an Tiefe gewinnt und mit dem jetzt erschienenen fünften Band eine Ahnung davon vermittelt, dass hier ein beachtliches Fantasy-Werk heranwächst.

Meister der langen Strecke

Die Idee dazu stammt von Régis Loisel, der in den 80ern mit dem Fantasy-ComicEpos „Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“ das Fundament legte, auf dem viele spätere Erzählungen dieses Genres aufbauten. Damit ebenso wie mit dem soeben in zwei vorbildlich editierten Sammelbänden neu aufgelegten Abenteuer-Drama „Peter Pan“ hat der heute in Kanada lebende Franzose immer wieder bewiesen, dass es gewinnbringend ist, ihm über lange Strecken zu folgen.

Komplett: Kürzlich erschein der zweite Band der Gesamtausgabe von Loisels "Peter Pan".
Komplett: Kürzlich erschein der zweite Band der Gesamtausgabe von Loisels "Peter Pan".

© Egmont Comic Collection

Wie auch bei der jetzt mit dem neunten Band beendeten historischen Erzählung „Das Nest“ – die man allerdings nur komplett lesen kann, wenn man schon länger dabei ist: Der erste Band erschien vor acht Jahren auf Deutsch und ist längst vergriffen. Die von Loisel mit seinem Atelierpartner Jean-Louis Tripp geschaffene Geschichte schildert in stimmungsvollen Bildern den Alltag in einer abgeschiedenen Dorfgemeinschaft im Québec der 20er Jahre.

Im Zentrum steht die junge Witwe Marie, deren freigeistiger Lebensstil durch einen Besuch in der Metropole Montreal beflügelt wird. Zusammen mit ihrem Freund Serge, der sich zu Männern hingezogen fühlt, bringt sie die althergebrachte Ordnung gehörig durcheinander. Vor dem Hintergrund idyllischer Naturbilder fügen sich die kleinen Freuden und Dramen des Dorflebens zu einem humanistischen Epos zusammen, das allerdings gerade zum Schluss hin nicht frei von Kitsch und Klischees ist.

Zwei Kinder mit geheimnisvollen Kräften

Das Szenario zu „Der große Tote“ hat Loisel mit Jean-Blaise Dijan erarbeitet, von dem auch die gelungene Sherlock- Holmes-Hommage „Die Vier von der Baker Street“ stammt. Gezeichnet hat „Der große Tote“ Vincent Mallié, der auch an der Fortsetzung von „Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“ beteiligt ist, dessen jüngster Band vergangenes Jahr erschien und ebenfalls Lust auf mehr macht.

Mallié hat einen fließenden Strich, der realistische Kulissen, leicht karikierende Personendarstellungen und fantastische Elemente elegant verbindet. Die Zeichnungen wirken nicht ganz so schwungvoll, vital und organisch wie bei Loisel selbst, der mit „Peter Pan“ seinen künstlerischen Höhepunkt erreichte und für „Das Nest“ seinen Strich noch mal verfeinerte, passen aber gut zur Handlung.

Großes Finale: Der neunte und letze Band der Reihe "Das Nest" mit der Hauptfigur Marie auf dem Cover.
Großes Finale: Der neunte und letze Band der Reihe "Das Nest" mit der Hauptfigur Marie auf dem Cover.

© Carlsen

Im Kern wird in „Der große Tote“ ein beliebtes Motiv der Fantasy- und Science-Fiction-Literatur variiert, nämlich das Zusammentreffen von Vertretern zweier einander fremder Welten, das ungeahnte Folgen nach sich zieht. In diesem Fall die Geburt zweier Kinder hüben und drüben, die übersinnliche Kräfte haben und von besagtem Priester für seine Zwecke eingesetzt werden.

Zugleich geht es auch um eine schwierige Dreiecksbeziehung, um politische und soziale Umbrüche, um den Überlebenskampf eines Elfenvolkes, um eine pathologische Mutter-Tochter-Beziehung ... Und im Endeffekt – und hier schließt sich der Kreis zu Loisels anderen Werken – auch um die Suche nach dem guten Leben im Einklang mit der Natur und sich selbst.

Der aktuelle Band lässt erahnen, dass hinter den Puzzleteilen ein großer Plan steckt. Einer, der ziemlich aufregend sein könnte. Bis das klar ist, dürften aber noch Jahre vergehen: An den ersten fünf Bänden haben ihre Schöpfer rund sieben Jahre lang gearbeitet.

Loisel, JB Dijan, Mallié: Der große Tote, Egmont, bislang 5 Bände à 64 S., 12/16 €.
Loisel: Peter Pan, Ehapa, 2 Bände à 184/168 S., 29,99 €.
Loisel, Tripp: Das Nest, Carlsen, 9 Bände à 64/128 S., 18/26,99 €.
Loisel u.a.: Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit, Carlsen, bislang 8 Bände à 64 S., je 12 €

Atelierbesuch bei Loisel: Der Tagesspiegel hat den Zeichner und seinen Mitstreiter Jean-Louis Tripp vor fünf Jahren in Kanada besucht, hier lesen Sie den Artikel dazu.

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Eingespieltes Team. Régis Loisel (links) und Jean-Louis Tripp 2010 in ihrem Atelier in Montréal.

© Lars von Törne

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