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Die zweite Jugend. „Vertraute Fremde“ ist eine Zeitreise in die Kindheit des Protagonisten.

© Illustration: Taniguchi/Carlsen

Manga: Die Poesie des Alltags

Die Erzählung „Vertraute Fremde“, deren Verfilmung jetzt ins Kino kommt, ist einer der bedeutendsten Comics der Gegenwart. Klaus Schikowski erklärt, was das Besondere an Jiro Taniguchis Meisterwerk ist.

Der Zeichner Jiro Taniguchi ist ein Poet. Als läge etwas hinter den Dingen, so greifbar scheint bei ihm der Moment. Er sucht nach den Kleinigkeiten, die im Wesen des Alltags liegen: ein kurzes Verweilen nach der Arbeit, eine Verschnaufpause, Stille. Alles wirkt in sich ruhend, beinahe meditativ. Taniguchi macht darauf aufmerksam, dass es etwas gibt im täglichen Leben, das nahezu vergessen und verloren ist - etwas Schönes und Wertvolles, die Schönheit des Moments. Seine Geschichten sind zärtliche Annäherungen an das Alltägliche und sie sind geprägt von Momenten des Innehaltens und Durchatmens. Die Beobachtung der Wolken an einem milden Sommertag, die ersten schüchternen Berührungen einer zarten Liebe oder die Ruhe an einem Tag am Meer - es gelingt Taniguchi, die Momente des Lebens stillstehen zu lassen und kurz darin zu verharren.

In „Vertraute Fremde“, das erstmals 1997 erschien, zeigt sich Taniguchi auf der Höhe seiner Kunst, der großen Kunst des grafischen Erzählens. Es ist ihm ein Anliegen, anspruchsvolle Bildgeschichten zu erzählen, die auch ein erwachsenes Publikum begeistern können. 1947 in Tottori geboren, wuchs Taniguchi mit Manga auf und entdeckte bereits als Jugendlicher eine von ernsthaften Inhalten geprägte Form des Manga. Schon früh stand für ihn fest, dass er ein „Mangaka“, also ein Mangazeichner, werden wollte. Als er ab 1972 seine ersten Bände veröffentlichte, handelte es sich um Genre-Arbeiten wie Krimis, Boxer-Dramen, Samurai- oder Science-Fiction-Geschichten, die für ein älteres Publikum gedacht waren, denn sie zeichneten sich durch eine härtere Tonart aus. Es war deutlich spürbar, dass der Zeichner noch auf der Suche nach seinem ganz persönlichen Stil war.

Ein Gegenentwurf zur Beschleunigung in der globalen Großstadt

Erst in den 1980er-Jahren begann Taniguchi auch andere Themen in Manga-Form zu verarbeiten. Seine fünfteilige Serie „Botchan no Jidai“ über Schriftsteller der Meiji-Ära (1867 -1912, eine Umbruchphase, die als Synonym für den Ursprung des modernen Japan steht) gilt als Durchbruch für eine neue Form des literarischen Manga. Damit bekräftigte er seinen Status als Erzähler, und mit dem 1992 entstandenen „Aruku Hito“ - einer Sammlung von Kurzgeschichten über einen namenlosen Mann, der durch die Stadt schlendert, um sich an der Schönheit der kleinen Dinge zu erfreuen - führte er seinen Stil zur Vollendung. Als Gegenentwurf zum Tempo und der zunehmenden Beschleunigung in der globalen Großstadt gedacht, tritt hier erstmalig das Gefühl für die Poesie des Alltags auf, die Taniguchi so meisterhaft in Szene zu setzen weiß.

Sein Werk ist tief verwurzelt in der asiatischen Kultur und weist dennoch viele Einflüsse anderer Kulturen auf. Als Künstler greift er Themen und Strömungen aus Literatur, Film und Comic auf. So zeigen seine frühen Werke noch Einflüsse von Hard-Boiled-Detektivgeschichten oder des Film Noir. Aber auch wenn er geschickt die Elemente von Büchern und Filmen miteinander kombiniert, so sieht sich Taniguchi trotzdem in der Tradition des herkömmlichen Manga. „Manga“ ist der Begriff für die japanische Form des Comics, zugleich definiert er ihn auch, denn übersetzt heißt Manga so viel wie „spontanes Bild“. Und diese Spontaneität drückt sich auch in einer eigenen Bildsprache aus. Manga sind handlungsorientiert, Dialoge können schon einmal über mehrere Seiten hinweg dauern, einzelne Sequenzen werden mit einer Dynamik und einer expressiven Bildsprache erzählt, die dem westlichen Comic fremd sind. Doch die Bilder von Taniguchi wirken nicht spontan. Sie sind mit großer Sorgfalt angefertigt, wirken in sich verharrend und strahlen eine besondere Ruhe aus. Vielleicht liegt dies an den Themen, denen sich Taniguchi widmet, denn seine Geschichten sind von einer intimen Privatheit und erinnern damit an die großen autobiografischen Werke, die die Graphic Novel in Amerika hervorgebracht hat.

Der Manga wird erwachsen

Auch in Japan hat es im Laufe der Manga-Historie eine Hinwendung zu Geschichten über das Alltägliche und Private gegeben. Bereits zehn Jahre bevor sich in Amerika und Europa ein so genannter „Underground“ bildete, entstand in Japan unter dem Begriff „Gekiga“ (dt. etwa „dramatische Bilder“) in den 1950er-Jahren eine Bewegung, in der sich Mangaka zusammenfanden, die für eine realistische Darstellung in den japanischen Comics eintraten. Sie lässt sich als Gegenbewegung frühen Werken des Osamu Tezuka verstehen, der den Manga geprägt hat wie kein Zweiter, dessen Geschichten jedoch auf ein Kinder- und Jugendpublikum ausgerichtet und dementsprechend inhaltlich angelegt waren. Die neue Zeichner-Generation hingegen wollte Geschichten abbilden, die nah an der Wirklichkeit waren und sich an erwachsene Leser richteten. Das Innenleben der Protagonisten wurde zur Triebkraft ihrer Geschichten erhoben, das alltägliche menschliche Drama hielt Einzug in den Manga. Als „Vater“ dieser Bewegung gilt der Zeichner Yoshihiro Tatsumi, der die Verlierer und Unglücklichen der Gesellschaft zu Hauptcharakteren seiner Kurzgeschichten machte.

Die Zeichner um Tatsumi - unter anderem auch Yoshiharo Tsuge und Shigeru Mizuki - veröffentlichten ihre Manga in dem progressiven Magazin „Garo“, das alsbald zur Heimstätte für außergewöhnliche Geschichten werden sollte, welche den Manga nachdrücklich verändert haben. Tsuge schrieb seine am Rande der Gesellschaft spielenden Erzählungen in der Ich-Perspektive, einer Technik, die er der modernen japanischen Literatur entlehnte, wo sie unter dem Begriff „Ich-Erzählung“ ein eigenes Genre bildet. Mizuki hingegen erforschte die Dinge hinter dem Normalen und erzählte von übernatürlichen Wesen, die mit den Menschen hausen, aber für diese längst nicht mehr sichtbar sind.

Die Begegnung mit europäischen Zeichnern veränderte seinen Blick

Die in „Garo“ publizierten Künstler waren Wegbereiter für ein erwachsenes Lesepublikum der Manga in Japan. Sie haben die traditionelle Hauptströmung nie verleugnet, sondern nutzten sie als Grundlage zur Erweiterung und Eröffnung neuer Perspektiven. Obschon der Begriff des „Gekiga“ sich nur auf die Veröffentlichungen rund um das Magazin „Garo“ bezieht und mitnichten ein eigenes Genre darstellt, verwässerte die Bezeichnung zu Beginn der 1970er-Jahre in Japan immer mehr. Alles, was sich an ein erwachsenes Zielpublikum richtete (vor allem auch erotische bzw. pornografische Geschichten), wurde diesem Begriff zugerechnet. Trotzdem hat er sich bis heute als Oberbegriff für eine erwachsene Form des Manga durchgesetzt. In einem Interview hat Jiro Taniguchi einmal erklärt, er würde Gekiga machen. Damit deutet er an, dass für ihn die anspruchsvollen Themen von großer Wichtigkeit sind, und zudem verbeugt er sich vor den Meistern dieser Strömung. Doch anders als bei den Zeichnern von „Garo“ liegt es Taniguchi fern, die Schattenseiten des Lebens aufzuzeigen, er stattet seine Figuren vielmehr mit Optimismus und Zuversicht aus.

Und noch ein anderer Einfluss sollte maßgeblich für Taniguchi werden, denn Mitte der 1970er-Jahre entdeckte er den frankobelgischen Comic, der ihm eine erweiterte Sichtweise auf das Medium bot. Die Vielfalt der Zeichenstile in den europäischen Alben war für den Japaner etwas völlig Neues. Sie kamen ihm wie Bilderbücher vor, mit einer Vielzahl an Details und Informationen in nur einem einzigen Panel. Er erkannte, dass die Zeichnungen und deren Komposition im Mittelpunkt stehen und nicht die Aneinanderreihung der Bilder wie im Film. Zudem war die Konstruktion einer Geschichte in europäischen Alben weniger von Schnelligkeit und Tempo geprägt. Dadurch eröffneten sich Taniguchi neue erzählerische Möglichkeiten. Fortan setzte er bewusst den Ausdruck des Einzelbildes zum Erzählen ein und begann Akzente zu setzen. Der Einfluss der „Bandes Dessinées“ wird aber auch stilistisch im Werk von Taniguchi deutlich. Seine Figuren sind stark von der Tradition des Manga beeinflusst. Allerdings agieren sie vor einem detaillierten Hintergrund, der einem nahezu überschäumenden Naturalismus gleichkommt. Diese Methode wurde in Europa von keinem Geringeren als Hergé begründet, dessen Figuren ebenfalls im Gegensatz zum Hintergrund stark stilisiert waren.

Der Film als Inspirationsquelle

Das Interesse und die Neugierde am französischen Comic führte ihn Anfang der 1990er-Jahre mit dem Franzosen Frederic Boilet zusammen. Dieser sah im Werk von Taniguchi Parallelen zu anderen zeitgenössischen Comic-Künstlern, die gegen bestehende Stereotypen im Comic angingen. Boilet ersann das Manifest der „Nouvelle Manga“ in Anlehnung an den französischen Nouvelle-Vague-Film. Indem Boilet auf die Ähnlichkeiten von Comic und Manga hinweist, beweist er eine sehr moderne globale Comicauffassung. Der Begriff der „Nouvelle Manga“ soll darauf hinweisen, dass fernab des herkömmlichen Manga Geschichten erzählt werden, die Authentizität besitzen und ihren Ursprung direkt aus dem realen Leben beziehen - so wie die Werke von Taniguchi, die Boilet für den französischen Markt bearbeitete.

Meditativ. Taniguchis Bilder, hier das Covermotiv des Buches, wirken in sich verharrend.
Meditativ. Taniguchis Bilder, hier das Covermotiv des Buches, wirken in sich verharrend.

© Carlsen

Überhaupt ist der Film eine wichtige Triebfeder im Werk von Taniguchi - den größten Einfluss dürften die Werke des Regisseurs Yasujiro Ozu (1903-1963) auf ihn ausgeübt haben. Beide Künstler wirken in ihrer Arbeit zurückhaltend und sind doch von beinahe kontemplativer Konzentration eine geistige Nähe ist nahezu spürbar. Der bekannteste Film von Ozu ist „Tokyo Monogatari“ (dt.: „Die Reise nach Tokio“) aus dem Jahre 1953, der den Alltag und die Rituale eines Mittelstand-Japans beschreibt und dessen Fokus auf den Veränderungen in den Familienstrukturen und den tradierten Werten liegt - ein Thema, das auch Taniguchi immer wieder aufgreift.

Ein Bild von Japan, wie es selten gezeigt wird

Und immer wieder zitiert Taniguchi aus der japanischen Kultur: zum Beispiel den Schriftsteller Osamu Dazai (1909-1948), der als Sprachrohr einer ganzen Generation galt, oder aus populären TV-Serien, oder er verarbeitet aktuelle Schlager, die quasi als Hintergrundmusik zu den Bildern laufen. Denn Jiro Taniguchi ist nicht nur ein Nostalgiker, sondern auch Chronist.

Dies sind einige der Einflüsse, unter denen der vorliegende Band entstanden ist. Doch wovon erzählt Taniguchi? Er nimmt uns in „Vertraute Fremde“ mit auf eine Zeitreise in die Jugend des Protagonisten und lässt uns am Aufwachsen in der japanischen Provinz in Tottori teilhaben. Es ist eine Zeit des Umbruchs, sowohl gesellschaftlich als auch privat. Und Taniguchi verfasst eine Chronik dieses Umbruchs: Er erzählt von einem Japan der 1960er-Jahre, kurz vor den Olympischen Spielen, die 1964 in Tokio stattfinden werden. Er erzählt vom Aufschwung, von technologischen Neuerungen - vom japanischen Wirtschaftswunder. Ein Nachkriegsjapan, wie es selten gezeigt wird. Aber er erzählt auch von den Arbeitern, der Kleinstadt und vor allem von der japanischen Familie. Dabei sind es immer wieder Rituale, die der Leser zu sehen bekommt: das Essen im Kreise der Familie, der Schulalltag, die Arbeit in einem Schneideratelier. All das verarbeitet Taniguchi zu einem vielschichtigen Kosmos.

Die Sehnsucht, sein eigenes Leben zu verstehen

Sein Thema sind die Veränderungen in der Familie - Veränderungen, wie man sie nur begreifen kann, wenn man dasselbe Alter erreicht hat wie die Eltern zur damaligen Zeit, als man noch ein Kind war. Taniguchi erzählt von verlorenen und gefundenen Träumen. Er erzählt von der Sehnsucht, sein eigenes Leben zu verstehen. Behutsam erfährt der Leser so immer mehr über die Figuren, denn Taniguchi zeichnet ein realistisches Bild, ohne dabei dramatisch zu überhöhen. Vielleicht liegt es auch daran, dass er keine Geschichten aus der Großstadt erzählen möchte, sondern von einer Jugend in der Provinz. Die Abwendung von der Metropole als eskapistischer Gedanke? Mag sein. Aber auch das liegt in der Natur von Poesie.

Wie man dieses Werk nun auch bezeichnen mag: Comic oder Manga, Graphic Novel, Comic-Roman oder Gekiga - das spielt nur eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist, dass wir es hier mit einem außergewöhnlichen Erzähler zu tun haben, der die Sprache der Literatur und des Comics in einer äußerst persönlichen Auseinandersetzung mit dem Leben vereint. Ein virtuoser grafischer Erzähler, der uns einlädt, den Traum zu träumen, noch einmal jung sein zu dürfen - ein Poet der Bildgeschichte.

Die Verfilmung von „Vertraute Fremde“ ist ab dem 20. Mai in deutschen Kinos zu sehen, eine erste Rezension finden Sie unter diesem Link.

Unser Gastautor Klaus Schikowski lebt in Köln als freier Autor. Er veröffentlicht regelmäßig in der Fachzeitschrift „Comixene“ und vielen anderen Publikationen Artikel über Comics. Sein Buch Die großen Künstler des Comics (Edel-Verlag, 256 Seiten, Hardcover, mit 130 Illustrationen, 29,95 Euro) gibt einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Autoren und Zeichner der Comicgeschichte, mehr dazu unter diesem Link. Dieser Text wurde erstmals als Vorwort in der deutschen Ausgabe von „Vertraute Fremde“ im Carlsen-Verlag abgedruckt - zu dessen Website geht es hier. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die freundliche Erlaubnis, das Essay hier erneut zu veröffentlichen.

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