zum Hauptinhalt
Augen zu und durch: Eine Seite aus "Irmina"

© Yelin/Reprodukt

„Irmina“ von Barbara Yelin: Wir Wegschauer - ein Frauenleben in der NS-Zeit

Vom Freigeist zur Mitläuferin: Inspiriert von der Lebensgeschichte ihrer Großmutter zeichnet Barbara Yelin in ihrer Graphic Novel „Irmina“ das Leben einer jungen Frau im Nationalsozialismus nach.

Eine weltoffene und ehrgeizige junge Frau wird zur Mitläuferin in Nazi-Deutschland: Barbara Yelin zeichnet in ihrem grandiosen historischen Comicroman „Irmina“ einen individuellen und doch beispielhaften Werdegang der NS-Zeit nach. Basierend auf Aufzeichnungen ihrer Großmutter nähert sie sich der bis heute schwer zu beantwortenden Frage an, wie eine Mehrheit der Gesellschaft die Verbrechen des Nazi-Regimes zulassen oder gar unterstützen konnte.

Yelins Geschichte beginnt kurz nach Hitlers Machtübernahme mit Irminas Ankunft in England. Die begabte junge Frau macht dort eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin und lernt während ihres Aufenthalts den Oxford-Stipendiaten Howard kennen. Eine zarte Liebesbeziehung entsteht zwischen den beiden Landesfremden: der Deutschen, die sich stets für die politischen Vorgänge in ihrer Heimat rechtfertigen muss, und ihrem aus Barbados stammenden, schwarzen Freund, den sie gegen rassistische Anfeindungen verteidigt.

„Die Juden sind unser Unglück“

Als Irmina aus Geldnot zurück nach Deutschland muss, hat sie zunächst nur im Sinn, bald wieder in England zu sein. Doch dann kommt ihr letzter Brief an Howard zurück. Empfänger unbekannt verzogen. Auf ihre Verzweiflung folgen Resignation und Sich-Abfinden. Die freigeistige Frau heiratet ausgerechnet einen SS-Mann, wird zur klassischen Ehefrau und Mutter im Nazi-Regime. Und nun zeigt Yelins von jahrelanger gründlicher Recherche gestützte Geschichte sehr anschaulich, wie sich die Untugenden Bahn brechen, auf die sich jedes menschenverachtende System stützt: Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit, Opportunismus.

Kurzes Glück: Die Hauptfigur der Erzählung auf dem Buchcover.
Kurzes Glück: Die Hauptfigur der Erzählung auf dem Buchcover.

© Reprodukt

Solange Irmina vom Regime profitiert, duldet sie das Leid anderer. Was geht es schließlich sie an? In den eindrücklichen Szenen von Pogromen, Plünderungen, Demütigungen wirkt es besonders frappierend, dass die vormals so engagierte, eigenwillige Frau einfach wegschaut oder das Geschehen gar trotzig befürwortet. „Die Juden sind unser Unglück“, stößt sie einmal auf eine Frage ihres Sohnes hervor, und es wirkt weniger überzeugt als schlicht genervt.

Yelins skizzenhaften Blei- und Buntstiftzeichnungen, denen man ihre Überarbeitungsgeschichte ansieht, machen den Prozess der Annäherung an die Figur und deren Psychologie transparent. Hier zeigt sich ein Fragen und Verstehen-Wollen, kein finales Statement mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Am Schluss wird Irmina noch einmal ihrer früheren Liebe Howard gegenübergestellt, der seinen Idealen treu geblieben ist. Und es wird deutlich, dass sie, die sich aus Opportunismus verraten hat, mit ihrem Leben nicht glücklich geworden ist. Diese Botschaft reicht über das für sich schon lesenswerte Mitläufer-Psychogramm hinaus.

Barbara Yelin: Irmina, Reprodukt, 285 Seiten, 39 Euro.

Weitere Artikel über Barbara Yelin finden Sie unter anderem unter diesem Link, hier und hier.

Veranstaltungshinweis: Derzeit befindet sich Barbara Yelin auf Lesereise durch den deutschsprachigen Raum. Am 13. und 14. November ist sie in Wien, am 25. November in Augsburg und am 26. November in Hamburg. Mehr zu den einzelnen Veranstaltungen auf der Website ihres Verlages.

Zur Startseite