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Ergrauter Rebell: Baru vor kurzem in einer Ausstellung seiner Werke auf dem Comicfestival München.

© Lars von Törne

Interview: „Rock’n Roll spielt eine große Rolle in meinem Leben“

An diesem Sonnabend wird der französische Comic-Star Baru 70. Wir veröffentlichen aus dem Anlass erneut ein Interview, das er vor vier Jahren dem Tagesspiegel gab.

Tagesspiegel: Ihr Buch „Wieder unterwegs“, eine lange Comicerzählung, die in Frankreich bereits 1997 in Form von Fortsetzungsgeschichten publiziert wurde, erzählt in Episoden Geschichten der einfachen Menschen in Frankreich. Haben Sie hier ihre multiperspektivisch-vielstimmige Erzählweise erfunden, die Ihre Alben prägt?

Baru: Als ich „Wieder unterwegs“ geschrieben habe, hatte ich schon fast zwanzig Jahre Erfahrungen im Comic sammeln können. Vor allem erschien das Album nach „Autoroute du soleil“ (1995 in Frankreich erschienen, A.d.A.), das Album, in dem ich meinen Erzählstil gefunden habe. Was die Erzählstruktur des Albums angeht, war „Wieder unterwegs“ ein Versuch, wie dieses Erzählen in Episoden und verschiedenen perspektiven funktionieren kann. Für mich bestand die Frage darin, ob ich in der Art und Weise ein Album machen kann, das seine eigene interne Existenzberechtigung hat. „Wieder unterwegs“ ist zusammengesetzt aus mehreren Kurzgeschichten, die ich für eine Fortsetzungsreihe beim größten französischen Comicverlag Casterman umgesetzt habe. Ich hatte dabei die Idee, das im Mittelpunkt der Geschichte eine Person stehen muss, die in irgendeiner Art „unterwegs“ ist, um Erlebnisse und Anekdoten einzusammeln, die typisch waren für das Frankreich der neunziger Jahre. Diese Idee ist der Ursprung der kleinen Episoden und Kurzgeschichten, die ich hier erzähle. Später hatte ich dann die Idee, diese Geschichten wieder zu einer größeren zusammenzuführen. Dafür habe ich den zweiten Teil des Albums erfunden, der deutlich länger ist als alle anderen. Im Ganzen ist das Album dann eine Chronik der neunziger Jahre in Frankreich. Nun kommt noch ein zweiter Aspekt hinzu. Das Album ist so etwas wie der Ausgangspunkt meiner intellektuellen Auseinandersetzung mit der französischen Gesellschaft. Beim Umsetzen dieser Chronik habe ich bemerkt, dass ich in dem Album immer wieder von mir selbst und meiner Generation sprechen will.  Also habe ich neben der weiblichen Hauptfigur einen zweiten männlichen Erzähler eingeführt, der in den neunziger Jahren um die fünfzig Jahre alt ist und sich über die sich verändernde Welt wundert, die ihn umgibt. Der sich aufgrund seiner eigenen Unveränderlichkeit in dieser Welt auch selbst verloren fühlt.

Baru mal zwei: Die Cover der beiden jetzt auf Deutsch erschienenen Werke.
Baru mal zwei: Die Cover der beiden jetzt auf Deutsch erschienenen Werke.

© Reprodukt/Edition 52

Ihr Buch „Bleierne Hitze“ ist eine Adaption des gleichnamigen Kriminalromans von Jean Vautrin. Wie gehen Sie dabei vor, wenn Sie Literatur in einen Comic verwandeln?

Ich mache das nicht oft. Ich brauche diese literarischen Vorlagen nicht, ich habe genug Stoff in meinem Kopf. Diese Krimiadaptionen sind Folgen zufälliger Begegnungen. Jean Vautrin habe ich ebenso zufällig getroffen wir Pierre Pelot, dessen Krimi „Elende Helden“ ich zuvor als Comic umgesetzt habe. Ich lese übrigens fast nur Kriminalromane, denn dies scheint mir die für die Moderne am besten passende Literatur zu sein. Wir haben uns also getroffen und entschieden, zusammen etwas zu machen. Und dann ging es los. In dem Moment, in dem ich mich entschieden habe, einen Roman zu adaptieren, denke ich darüber nach, was das genau heißt. Und der Comic am Ende ist die Harmonie aus dem Resultat meiner Überlegungen und meinen zeichnerischen Fähigkeiten.

Der Comic „Wieder unterwegs“ beginnt mit dem Auftritt einer Musikgruppe. Musik spielt in all ihren Arbeiten eine große Rolle. Wie kommt es dazu?

Der Ausbruch des Rock’n Roll Ende der fünfziger Jahre spielt eine immens wichtige Rolle in meinem Leben. Letztendlich weiß ich nicht, ob es tatsächlich diese Musik war, die zu den Ereignissen und Entwicklungen geführt hat, die 1968 und später eingetreten sind, oder ob der Rock’n Roll nur ein Symptom der Reife unserer Gesellschaften für diesen Umbruch war. Womöglich war diese Musik – es gibt Menschen, die sagen, es sei keine Musik, aber das ist mir egal, denn für mich ist nur wichtig, was mir diese Musik bedeutet hat und immer neu bedeutet – nur das Symptom. Denn Rock’n Roll hat etwas mit dem Körper zu tun, ist keine Sache des Kopfes. Ich glaube, dass die sexuelle Revolution irgendwie eine Folge des Rock’n Roll als körperfixierte Musikform ist. Deshalb haben auch die Älteren alle eine schreckliche Angst vor dieser Musik. Und parallel zum Ausbruch des Rock’n Roll begann die Erfolgsgeschichte der modernen Comics, weil die Autoren sich bis Ende der sechziger Jahre vom Käfig der Kinderliteratur befreit haben. Und ich gehöre zu der Generation, die all das erlebt und geprägt hat. Ich bin Teil der Comicbewegung und natürlich spielt das dann eine große Rolle.

Ihr bekanntestes Album ist zweifelsohne „Autoroute du Soleil“. Sie haben für den Comic mit einem japanischen Verlag zusammengearbeitet. Wie ist es dazu gekommen?

Der Verleger des japanischen Hauses Kodansha kam auf mich zu und fragte, ob ich etwas für seinen Verlag machen könnte. Ich habe ihm dann diese Geschichte vorgeschlagen und er war einverstanden. So habe ich von Frankreich aus die 15 Episoden von „Autoroute du Soleil“ für das Wochenmagazin des Verlags „Morning“ gezeichnet. Casterman hat dann die Rechte von Kodansha gekauft, um die französische Ausgabe zu machen.

Landpartie: Eine Szene aus „Bleierne Hitze“.
Landpartie: Eine Szene aus „Bleierne Hitze“.

© Edition 52

Wie hat diese Erfahrung ihre Art zu arbeiten verändert?

Meine Art zu arbeiten hat es in dem Sinne kaum verändert. Der entscheidende Punkt aber ist: Ich war gerade dabei, etwas Neues zu suchen, und diese Kooperation hat mir die Möglichkeit gegeben, dieses etwas zu finden. Diese Erfahrung war wie ein wunderbares Experiment. Ich konnte viele Dinge ausprobieren, etwa die Art und Weise, Dinge anders zu erzählen als bisher, angesichts der Schwäche der Seitenaufteilung der traditionellen französischen Comics. Ich konnte so endlich meine eigene Erzählstimme finden. Vor allem konnte ich seither nie wieder auf das klassisch-kurze Format der französischen Alben von 48 Seiten zurückkehren. Das hat mir die Erzählweise, die ich für mich beim Zeichnen von „Autoroute du Soleil“ entdeckt habe, nicht mehr erlaubt. Dieser Comic war für mich wie eine Initialzündung. Ich wusste sofort, dass dies der Stil ist, in dem ich meine Geschichten erzählen will.

Wie stoßen Sie auf diese Geschichten? Verarbeiten Sie in Ihren Alben eigene Erlebnisse und Erfahrungen, schnappen Sie diese Geschichten auf der Straße auf oder lesen Sie davon in der Zeitung?

Es ist eine Mischung von all dem. Ich bin ziemlich aufmerksam, was die Ereignisse um mich herum und die Art und Weise, wie wir Menschen miteinander umgehen, betrifft. Ich habe viele Jahre die gesellschaftspolitischen Ereignisse analysiert und habe ein Gefühl dafür, zu wissen, welche Sachen wichtig sind zu erzählen. Ich erfinde Geschichten um diese Dinge herum, um von ihnen erzählen, sie thematisieren zu können. Deshalb spielen in meinen Comics auch immer die gesellschaftspolitischen Ereignisse unserer Zeit eine wichtige Rolle, also der Aufstieg der rechtsextremen Front National, die Frage der Herrschaft des Menschen über den Menschen oder die Folgen der sozialen Wanderungen. Was mich interessiert ist die Frage, wie man all dem Entkommen kann. In all meinen Arbeiten geht es um Menschen, die versuchen, der Herrschaft, die über sie ausgeübt wird, zu entkommen und welchen Preis sie dafür zu zahlen haben. In „Autoroute du Soleil“ geht es um genau diese Fragen. Da sind diese zwei jungen Männer, die versuchen, der sie umgebenden Welt zu entkommen und die vollkommen verändert zurückkehren, weil sie in der Zeit ihrer Reise etwas erlebt haben. Dieser Prozess steht im Zentrum meiner Arbeiten.

Möchten Sie, dass man ihre Comics als politische Kommentare liest?

Nein, ganz und gar nicht. Meine Alben sind keine politischen Kommentare im eigentlichen Sinne. Vielmehr kommentiere ich das soziale Verhalten der Menschen und suche Antworten auf die Frage, wie sich unsere Gewohnheiten entwickeln? Die Politik befindet sich für mich auf einer anderen Ebene. Da geht es ums Wählen, um die Regierung und so weiter. Und zugleich bin ich ein echter politischer Zeichner, weil ich mich dafür interessiere, wie Gesellschaft funktioniert.

Rock'n'Roll: Eine Szene aus "Wieder Unterwegs".
Rock'n'Roll: Eine Szene aus "Wieder Unterwegs".

© Reprodukt

Ich finde in Ihren Alben stets eine gewisse Melancholie, eine Liebe zur Vergangenheit. Mögen Sie die Moderne nicht?

Ich weiß nicht. Eigentlich spreche ich immer nur von heute. Und wenn ich von dem Vergangenen, vom Gestern spreche, dann nur, weil ich mich für das Heute interessiere. Aber natürlich sollen meine Arbeiten die Moderne hinterfragen. Jemand, der die Umstände der Arbeiter in den siebziger Jahren kennt und diese mit dem heute vergleicht, der wird sich zweifellos fragen, was denn da eigentlich passiert ist. Und diejenigen, die in der Lage sind, diese Frage zu stellen, gehen hoffentlich einen Schritt weiter und verknüpfen diese Frage mit der politischen Ebene, um zu verstehen. Und wer versteht, trägt am Ende vielleicht mit dazu bei, die Würde der Menschen wieder herzustellen, die ihnen der libertäre Staat der Moderne genommen hat.

Ist die Aggressivität und Gewalt, die aus all ihren Alben spricht, ein Resultat dieser Liberalisierung von Politik und Ökonomie?

Aber ja, absolut. Die Gewalt in meinen Alben ist die Metapher für die Gewalttätigkeit, die dem Einzelnen in der modernen Gesellschaft angetan wird. Sie steht für die Gewalt der Moderne, entweder weil über das Individuum bestimmt wird, weil es zu einer niedrigeren Klasse gehört oder weil der Einzelne, der dieser Klasse entkommen möchte, daran gehindert wird. Ich spreche hier immer vom Preis, der zu zahlen ist. Dieser Preis ist schlicht und ergreifend die Gewalt, die der Einzelne ertragen muss, wenn er Dinge nicht einfach hinnehmen oder seinen zugeteilten Platz in der Gesellschaft verlassen möchte. Für mich sind meine Erzählungen daher auch immer Geschichten einer Emanzipation, auch wenn diese schmerzhaft und ohne gutes Ende ist. Aber es gibt doch zumindest immer den Versuch meiner Charaktere, den gegebenen Verhältnissen zu entkommen. Das ist für mich eine fundamentale Angelegenheit.

Zucht und Unordnung: Eine Szene aus „Bleierne Hitze“.
Zucht und Unordnung: Eine Szene aus „Bleierne Hitze“.

© Edition 52

Was auch ihre Hingabe für die Arbeiter, Immigranten, Prostituierten und Halbkriminellen erklärt. Geht es ihnen um ein Porträt eines bestimmten Milieus?

Es erklärt mein Interesse für die einfachen Menschen. Das ist das Milieu, aus dem ich komme und zu dem ich mich zugehörig fühle. Dazu gehören die einfachen Arbeiter ebenso wie die Einwanderer – letztendlich eigentlich alle, die in irgendeiner Art und Weise beherrscht werden. Und natürlich frage ich mich, was ist aus diesem Milieu geworden? Die einfachen Menschen und ihr Schicksal in der Moderne stehen im Zentrum meiner Arbeit. Alle Geschichten werden aus ihrem Blickwinkel erzählt.

Sehen sie sich selbst als Underground-Zeichner? Als Zeichner, der eine Welt beschreibt, die viele gar nicht mehr sehen?

Nein, überhaupt nicht. Ich zeichne ja nicht für eine kleine Gruppe, sondern meine Alben können von allen gelesen werden. Und wenn dann einige Probleme mit diesen Geschichten haben, dann hat das natürlich seine Gründe. Der Begriff „Underground“ steht, zumindest im Frankreich, für einen experimentellen Strich, der auch nicht mehr die gesellschaftliche Anbindung sucht. Underground beschäftigt sich, so sehe ich das, in einer Art Labor mit formellen Aspekten, aber nicht mit dem Wesentlichen, den Grundlagen. Mich aber interessiert genau das, die Grundlagen. Und wenn die Art und Weise meines Strichs und der Charakter meiner Alben manchem Probleme bereiten, weil sie nicht dem klassischen franko-belgischen Album entsprechen, dann kann ich das verstehen. Aber ich mache das ja nicht mit der Absicht, diese abzuschrecken, sondern vielmehr deshalb, dass selbst sie eines Tages meine Alben in die Hand nehmen und lesen. Auch vom Erzählstil her verstehe mich selbst nicht als Underground-Zeichner, wenngleich dieser Stil sehr intensiv und rhythmisch ist. Er treibt die Geschichte immer voran und wirft die Dinge durcheinander. In diesem Sinne ist er auch sehr musikalisch. Und das trägt dann dazu bei, dass jeder diese Geschichten lesen und verstehen kann.

Markanter Strich: Baru beim Signieren kürzlich auf dem Münchener Comicfestival.
Markanter Strich: Baru beim Signieren kürzlich auf dem Münchener Comicfestival.

© Lars von Törne

Welche Rolle spielt die Kolorierung ihrer Alben?

Die gleiche wie der Strich, sie trägt zur Erzählung bei. Ich kümmere mich nicht um hübsche Farben. Das ist mir vollkommen egal. Aber die Farbe trägt am Ende wie der Strich, das Format und die Seitenaufteilung dazu bei, die perfekte Seite zu finden. Und diese perfekte Seite entsteht mit dem Rhythmus der Bilder, ihrer inneren Konstruktion, die Aufteilung der Elemente im Bild, mit der Erzählung, dem Ton und natürlich auch mit der Farbe. All das trägt am Ende zur perfekten Seite und zum perfekten Bild bei. Ein Bild, am Rande bemerkt, das mir bis heute noch nicht gelungen ist. Ab und an gelingt es mir, ziemlich nah an dieses perfekte Bild heranzukommen. Aber wie oft gelingt mir das, vielleicht fünf oder sechs Mal in einem Album. Die anderen Bilder muss man einfach lassen, sonst wird man nie fertig. Ich kann die Leute nicht verstehen, die immer wieder neu anfangen oder Dinge überarbeiten, weil sie mit irgendetwas nicht zufrieden sind. Sie wollen, dass jedes Bild perfekt ist, aber das ist unmöglich. Das ist nicht menschlich.

Arbeiten sie gerade an einem neuen Album?

Ich möchte eine Trilogie beenden, mit der ich meine Karriere als Zeichner begonnen habe. Es ist ein Porträt der einfachen Menschen, der Arbeiterklasse, die all die Fragen behandelt, die wir hier aufgeworfen haben: die Fragen der Ortsveränderung, der Einwanderung, der persönlichen und sozialen Veränderung. Einwandern heißt, seine sozial zugeteilte Position verlassen zu wollen, auch deshalb interessiert mich dieses Thema so brennend. Es ist die perfekte Metapher in der Moderne für die Dinge, die mich interessieren.

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