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Die Preisträger samt Namenspaten der Ehrung.

© Lars von Törne

Internationaler Comic-Salon Erlangen: Die Max-und-Moritz-Preisträger 2016

Am Wochenende wurden beim Internationalen Comic-Salon die besten Comics der vergangenen zwei Jahre ausgezeichnet - hier die Gewinner und die Begründungen der Jury.

Der Max-und-Moritz-Preis in der Kategorie Bester deutschsprachiger Comic-Strip ging an "Das Hochhaus" von Katharina Greve. Als beste studentische Comic-Publikation wurde die Anthologie "Wunderfitz" ausgezeichnet. Der Max-und-Moritz-Preis in der Kategorie bester internationaler Comic ging an "Ein Sommer am See" von Mariko Tamaki und Jillian Tamaki. Der Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk ging an Claire Bretécher. Der Max-und-Moritz-Preis in der Kategorie bester Comic für Kinder ging an "Kiste" von Patrick Wirbeleit und Uwe Heidschötter. Ein Spezialpreis der Jury ging an den Avant-Verlag. Ein weitere Spezialpreis ging an den Autor Luz für "Katharsis". Als bester deutschsprachiger Comic wurde "Madgermanes" von Birgit Weyhe ausgezeichnet. Der Publikumspreis ging an "Crash 'n' Burn" von Mikiko Ponczek. Und als beste deutschsprachige Comic-Künstlerin wurde Barbara Yelin ausgezeichnet.

Im Folgenden dokumentieren wir die Begründungen der Jury. Ihr gehören an: Christian Gasser (Autor, Dozent an der Hochschule Luzern – Design & Kunst), Brigitte Helbling (Journalistin, Mitglied der Arbeitsstelle für Graphische Literatur der Universität Hamburg), Andreas C. Knigge (Journalist und Publizist, Hamburg), Isabel Kreitz (Comic-Zeichnerin, Hamburg), Lars von Törne (Tagesspiegel-Redakteur, Berlin), Christine Vogt (Leiterin der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen) und Bodo Birk (Leiter des Internationalen Comic-Salons Erlangen). 

Beste deutschsprachige Comic-Künstlerin: Barbara Yelin

Seit zwölf Jahren schon zeichnet Barbara Yelin Comics, ihr erstes Buch erschien 2004 in Frankreich. Sechs Jahre später erst überraschte sie das Publikum auch in Deutschland mit ihrer Graphic Novel „Gift“, der Geschichte der Bremer Massenmörderin Gesche Gottfried nach einem Szenario von Peer Meter, erzählt mit düsteren Bleistift-Zeichnungen von bleierner Schwere, die sich eingeprägt haben – Bilder, die hängengeblieben sind.

Und dann das! „Irmina“, ein Comic-Roman voller brillant charakterisierter Figuren und mit der geballten Wucht von fast 300 Seiten. Und mit ganz neuem Antlitz: Dezent farbig sind die Zeichnungen diesmal und durchflossen von Leichtheit, Eleganz und Lebendigkeit. Zudem erzählt Barbara Yelin hier selbst, und zwar dicht an der eigenen Biografie: Auf erste Puzzlesteine zu ihrer Geschichte eines jungen „Frolleins“ im London und später Berlin der 1930er-Jahre war sie in Briefen ihrer Großmutter gestoßen. Entwickelt hat sich daraus das atmosphärisch dichte Porträt einer Zeit, die die Lebensentwürfe einer ganzen Generation zum Einsturz brachte. Die Geschichte, man könnte sie exemplarisch nennen, eines Lebens zwischen Aufbegehren und Resignation und von den Grauzonen dazwischen. Und die, geradezu filmreif, auch noch mit einem furiosen Schluss aufwartet.

Barbara Yelin nagelt nichts unverrückbar fest, ihr Strich ist in Bewegung, tastend, skizzenhaft. Ihre Bilder erinnern, ganz anders als die klaren Konturzeichnungen der Ligne Claire, an leicht verwischte Fotos. Es sind Bilder, die so viel erzählen und in denen zugleich stets Ungewissheit vibriert. Auch wenn sie Comic-Strips zeichnet, wie „Riekes Notizen“ ehemals für die Frankfurter Rundschau, wenn sie als eine Mitbegründerin der Künstlerinnengruppe SPRING oder im Auftrag des Goethe-Instituts den arabischen Raum und Indien bereist, die Revolutionsbewegung auf dem Tahir-Platz in Kairo dokumentiert oder sich gemeinsam mit Künstlerinnen aus Indien mit der Situation der Frauen auseinandersetzt. Barbara Yelin hat eine ganz eigene und unverwechselbare Zeichen- und Erzählkunst ausgeprägt, die sie zu einer neuen, bedeutenden Stimme des Comics deutscher Provenienz macht.

Bester deutschsprachiger Comic: "Madgermanes" (Birgit Weyhe)

„Woraus speist sich Erinnerung?“ Mit dieser Frage beginnt Birgit Weyhes vor wenigen Tagen erst frisch aus der Druckerei gekommenes Comic-Buch „Madgermanes“, das auf den Untertitel „Graphic Novel“ auf dem Cover selbstbewusst verzichtet. Denn auch wenn die drei hier versammelten Erzählungen fiktiver Natur sind, so setzen sie sich doch zusammen aus Momenten gelebten Lebens, aus Erinnerungen, die Birgit Weyhe zu einer Art gezeichneter Dokumentation verdichtet hat, erzählt im Stil eines Tagebuchs. Oder wie ein Brief nach Hause, in eine weit entfernte Welt.

Madgermanes? So nennen sich in Mosambik diejenigen, die Ende der Siebziger als Vertragsarbeiter ins sozialistische Bruderland DDR kamen, wohl um die 300.000 Menschen. Mit dem Zusammenbruch der DDR erlosch ihre Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Die meisten gingen zurück in die Armut des inzwischen vom Bürgerkrieg verwüsteten Mosambik, wo ihnen ihre Berufe nichts nützen und sie bis heute auf einen Teil ihrer Löhne warten. Denn ausbezahlt bekamen sie damals nämlich nur die Hälfte, die andere sollte später in Mosambik folgen. Birgit Weyhe, selbst in Uganda und Kenia aufgewachsen, hat über Jahre hinweg mit Madgermanes gesprochen und dieses Kapitel auch unserer Geschichte jetzt in ihrem neuen Buch fulminant ausgeleuchtet.

Erinnerung – woraus die sich speist, erfasst Birgit Weyhe mit ebenso einfühlsamem wie präzisem Auge und erlaubt uns so den Blick auf einen Alltag zwischen den Kulturen, Leben ohne jede Verankerung. „Was mache ich nur hier?“, fragt sich an einer Stelle etwa José Antonio Mugande, einer ihrer drei Protagonisten. „So weit weg von allem, was ich kenne. Von allem, was ich liebe. Werde ich mich hier jemals heimisch fühlen?“ Birgit Weyhe spürt den Gefühlen und Umständen nach und setzt sie vor allem deshalb so überwältigend ins Bild, weil sie auch zeichnerisch in einen Dialog tritt zwischen europäischer und afrikanischer Kultur. So eröffnet sich eine überraschend neue, kunstvolle Reflexionsebene und das Thema und seine grafische Inszenierung verschmelzen eindrucksvoll auf höchst prägnante Weise.

Bester internationaler Comic: "Ein Sommer am See" (Mariko und Jillian Tamaki)

Roses Mutter kann es kaum erwarten, das vollgepackte Auto in die Einfahrt zu steuern, und auch Rose kostet das Gefühl der Ankunft am See mit allen Sinnen aus. Die sommerwarme Luft, das Haus, das Zimmer: Alles scheint wie immer zu sein. Vieles aber wird sich für Rose neu und anders anfühlen. Vor allem das Verhältnis zu ihrer etwas jüngeren Sommerfreundin Windy, die ebenfalls – und wie jedes Jahr – ihre Ferien in dieser Idylle verbringt.

Zwei Mädchen an der Schwelle zur Pubertät, doch auf unterschiedlichen Stufen – das ist die klassische Coming-of-Age-Geschichte, wie sie auch vor Mariko und Jillian Tamaki schon tausendfach erzählt worden ist. Doch die kanadischen Cousinen haben etwas ganz Besonderes geschaffen. Sie erwecken ihre beiden Hauptdarstellerinnen mit einer unübertrefflichen Beobachtungsgabe für Mimik und Körpersprache zum Leben. Windy ist ein expressives Kind, laut, direkt und der Erwachsenenwelt gegenüber noch herzlich desinteressiert. Für die introvertierte Rose wird das Leben komplizierter und verwirrender, und die Querelen ihrer Eltern belasten sie. Die Ferien verheißen aber auch neue Reize, zum Beispiel den irgendwie lässigen Kerl im Dorf-Drugstore. Da trifft Windys Vorschlag, wieder eine Sandburg zu bauen, bei der Älteren doch auf eher verhaltenes Interesse.

Mehr als 300 Seiten umfasst „Dieser eine Sommer“, so die wörtliche Übersetzung des Originaltitels – 300 Seiten, die man in einem Zug wegliest. Denn die leise Geschichte trifft den Nerv all jener, die sich erinnern, wie es war, als die eigenen Freundinnen nicht mehr auf Bäume klettern mochten, sondern sich mit einer „Bravo“-Ausgabe zurückzogen. So präzise, so fein und einfühlsam haben Mariko und Jillian Tamaki ihre Charaktere gezeichnet – und das in jeder Beziehung – dass sie für ihre Graphic Novel bereits mit dem wichtigsten amerikanischen Comic-Preis belohnt wurden, dem Eisner Award. Dem schließt sich die Jury nur zu gern an – mit dem Preis für den „Besten internationalen Comic“.

Bester deutschsprachiger Comic-Strip: "Das Hochhaus. 102 Etagen Leben" (Katharina Greve)

Immer dienstags kommen die Bauarbeiter. Dann wächst das Hochhaus, das die Berliner Comic-Autorin Katharina Greve im Internet entstehen lässt, um eine Etage. Und um jeweils eine weitere Episode, mit der Greve Zwischenmenschliches, Soziales und Politisches kommentiert. Da pöbelt ein Ehepaar über Flüchtlinge – und die Tochter sehnt sich nach politischem Asyl bei den Nachbarn. Da provozieren die Fernsehnachrichten in einem Wohnzimmer den Dialog: „Warum machen diese Selbstmordattentäter das?“ – „Vielleicht, damit sie sich diese Frage niemals selbst stellen müssen.“ Und im Keller schimpft ein Mann, der Kisten durchsucht, während seine Frau die Taschenlampe hält: „Wie schon Goethe sagte: ,Mehr Licht‘, blöde Kuh!“ – und sie denkt sich: „Wenn ich ihn JETZT umbringe, wären sogar seine letzten Worte abgedroschen!“

Die studierte Architektin Katharina Greve verbindet in ihrem Projekt die pointierte Unmittelbarkeit des Einbildwitzes auf erfrischende Weise mit dem Potenzial der längeren Bilderzählung, komplexe Geschichten zu erzählen. Auch wenn die Fertigstellung der Erzählung für den Herbst 2017 geplant ist, zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die vielfältig miteinander verbundenen Episoden am Schluss etwas ergeben, was die Grenzen der Kunstform formal erweitert.

Ähnlich wie in ihrer ersten Comic-Erzählung „Ein Mann geht an die Decke“ aus dem Jahre 2009, die im Berliner Fernsehturm spielte, nutzt die studierte Architektin Greve ihre Vorbildung auf sehr unterhaltsame Weise. Ihre klare, reduzierte Bildsprache hat sie weiter verfeinert, ihr fast technisch anmutender Zeichenstil passt gut zum Thema. Mit trockenem Witz und großem Einfühlungsvermögen erzählt sie von menschlichen Schwächen und Stärken, Ängsten und Hoffnungen. Dafür verbindet sie die komplexen visuellen Möglichkeiten der Kunstform Comic kongenial mit den architektonischen Gegebenheiten des Handlungsortes.

Zu Anfang ihrer Comic-Karriere attestierte eine Rezensentin der Architekturfachzeitschrift „Bauwelt“ der Zeichnerin: „Es muss nicht immer ein Unglück sein, wenn sich eine Architektin gegen ihren erlernten Beruf entscheidet.“ Greves aktuelles Projekt zeigt: Das stimmt.

Bester Comic für Kinder: "Kiste" (Patrick Wirbeleit und Uwe Heidschötter)

Für einen leidenschaftlichen Bastler wie den Jungen Mattis kann es wohl kaum einen besseren Freund geben als diesen sprechenden Karton. „Kiste“ heißt der und ist eine lebende Schatztruhe. In seinem Innern befindet sich ein ganzer Werkzeugschuppen, auch wenn er äußerlich nur ein kleiner kastenförmiger Kerl mit dünnen Beinchen und großen Augen ist. Kiste lebt eigentlich bei dem Zauberer Tamäus Bartels-trunk in einem abgeschiedenen Wald, aber seitdem er eines Tages in Mattis‘ Leben auftauchte, sind die beiden beste Freunde.

Mit seinen verrückten Ideen und seiner Tollpatschigkeit bringt Kiste immer wieder Mattis‘ Leben durcheinander und bereichert es zugleich enorm. Gemeinsam erleben sie die tollsten Abenteuer, bei denen ein Zauberschlüssel, der Eintritt in andere Welten gewährt, eine wichtige Rolle spielt.

Bereits die ersten beiden Bände „Kiste“ und „Kiste – Fluchtmücken und Wetterzauber“ überzeugten durch witzige Dialoge, turbulente Screwball-Einlagen sowie eine sympathische Figurenzeichnung. Uwe Heidschötters dynamischer Strich passt mit seinen geschwungenen Linien hervorragend zu Patrick Wirbeleits lebendigem Erzählstil. Die authentischen Dialoge und ein oft auch ohne Worte funktionierender Bildwitz ergänzen sich vorzüglich.

In „Kiste – Kein Unsinn“, dem dritten Band dieser Comic-Reihe, setzt das Zeichner-Autoren-Duo erneut auf die gelungene Mischung aus Magie und Realismus, in der sich ihre liebevoll gestalteten Charaktere bewähren und erkennbar weiterentwickeln. Als Mattis‘ Eltern ihn eines Abends mit einem 13-jährigen Mädchen als Babysitter alleine zu Hause lassen, wird plötzlich auch die in die Zauberwelt des Jungen hineingezogen. Die einzelnen Szenen sind pointiert, die Handlung turbulent und komisch, die Zeichnungen cartoonhaft, professionell und sehr lebendig. Erzählerisch und zeichnerisch gewinnt die Reihe dabei noch mehr an Tiefe. Dabei wird einerseits dem kindlichen Spaß am Abenteuer und auch am Unsinn viel Raum gegeben. Es werden aber auch Themen wie individuelle Verantwortung und der Übergang vom Kind zum Jugendlichen thematisiert, allerdings ohne pädagogisch-didaktischen Zeigefinger. Ein großer Spaß, auch für ältere Leser.

Beste studentische Comic-Publikation: "Wunderfitz"

Er ist dunkel, bisweilen bedrohlich – doch wenn man ihn heile durchquert hat, erwartet einen an seinem Ende das Licht. Oder auch nicht … Bei jenen Tunneln, in die es die Hauptfiguren der neun Comic-Kurzgeschichten in der ersten Ausgabe des kurz vor dem Comic-Salon neu gegründeten „Wunderfitz“-Magazins verschlägt, ist das Licht am Ende des Dunkels nicht immer eine Erlösung.

„The Tunnel“ heißt das gemeinsame Thema der auf Englisch publizierten Anthologie von Studierenden der Münster School of Design. Und was die neun Zeichnerinnen und Zeichner auf jeweils gerade mal acht Seiten daraus machen, kann erzählerisch wie zeichnerisch überzeugen.

Mal steht der Tunnel als Metapher für schmerzhafte oder verwirrende Passagen zwischen unterschiedlichen Lebensabschnitten oder Gefühlszuständen. Mal bietet er die Kulisse für fantastische Abenteuer, bei denen Traum und Realität nicht immer zu trennen sind. Und dann wird das Thema auch mal ganz wörtlich genommen und das Bedrohungsgefühl beim Durchqueren realer dunkler Tunnel grafisch virtuos umgesetzt. Souverän spielen die neun Beteiligten die Mittel der Kunstform Comic aus, setzen Panel-Layouts und individuelle Zeichenstile ihren jeweiligen Erzählungen angemessen ein – und geben dem Ganzen trotz sehr unterschiedlicher Handschriften doch einen bemerkenswert einheitlichen Look. Das ist auch dem geschickten Einsatz grauer und schwarzer Akzente auf kräftigem Papier zu verdanken, wodurch eine ästhetisch ansprechende Anmutung entsteht, die doch auch das potenziell Beängstigende des Themas gut vermittelt.

Was die Jury des Max und Moritz-Preises zudem angesprochen hat: „Wunderfitz“ ist eine von zahlreichen druckfrischen Eigenpublikationen, die diese Gruppe aus Münster zum Comic-Salon mitgebracht hat – und von denen mehrere der Jury ebenfalls positiv aufgefallen sind.

Dazu passt der programmatische Name des Projekts:  Laut „Duden“ ist „Wunderfitz“ ein im Süden des deutschen Sprachraumes heutzutage nur noch selten gebrauchtes Wort für neugierig, aber auch für leichtsinnig. Zwei in diesem Fall auf anregende Weise kombinierte Eigenschaften, die wir gerne mit dem Max und Moritz-Preis 2016 für die beste studentische Publikation belohnen.

Spezialpreis der Jury: "Katharsis" (Luz)

Mittwoch, der 7. Januar 2015. Rénald Luzier feiert seinen Geburtstag, indem er mit seiner Frau ein morgendliches Schäferstündchen genießt. Ein ganz normaler Geburtstag. Wirklich? Rénald Luzier heißt auch Luz, er ist seit 1992 Zeichner und Redakteur von „Charlie Hebdo“, und der 7. Januar ist der Tag des Blutbads bei „Charlie Hebdo“. Luz überlebt, weil er zu spät kommt. Und er reagiert souverän: Die Zeichnung des weinenden Propheten mit der mehrdeutigen Legende „Alles ist vergeben“ stammt von ihm. Doch wenig später kann Luz nicht mehr weiter arbeiten. „Eines Tages ist mir das Zeichnen abhandengekommen“, schreibt er, „am selben Tag wie auch eine Handvoll teurer Freunde.“

In „Katharsis“ erzählt Luz in kurzen Comics, wie die Zeichnung wieder zu ihm zurückfand und ihm erlaubte, den Anschlag zu bewältigen: mit Verzweiflung, Bosheit und schwarzem Humor, denn auch in der Verarbeitung von Trauer und Panik bleibt Luz ein Satiriker. Beeindruckend: Luz zeichnete „Katharsis“ unmittelbar nach dem Anschlag; das Buch erschien in Frankreich bereits im Mai 2015. „Katharsis“ geht unter die Haut. Luz‘ Frau und er wissen, dass ihr Leben nie wieder die frühere Unbeschwertheit haben wird – und Luz begreift bald, dass das auch für ihn als Zeichner gilt. Statt zu dem zurückzugehen, worin er ein Meister ist, zur Karikatur, erfindet er sich neu: Luz entfesselt seinen Strich und nähert sich der freien Zeichnung an. Er verarbeitet die Vergangenheit und zeichnet sich in die Zukunft.

Die Zeichnung ist wieder zu Luz zurückgekehrt. Aber er hat „Charlie Hebdo“ verlassen: Die Aktualität interessiert ihn nicht mehr genug, und die leeren Stühle an den Redaktionssitzungen seien unerträglich geworden.

Spezialpreis der Jury: avant-verlag für seine Verdienste um die Pflege kulturellen Erbes

In der nicht-grafischen Literatur ist es vollkommen selbstverständlich, dass der Kanon der wichtigsten Werke der Literaturgeschichte annähernd vollständig in deutscher Sprache verfügbar ist. Die grafische Literatur führt diesbezüglich ein Schattendasein. Zentrale Werke der Comic-Geschichte sind über Jahre und Jahrzehnte hinweg auf dem deutschsprachigen Markt nicht verfügbar oder waren es sogar nie. Von adäquaten, sorgfältig aufbereiteten und liebevoll hergestellten Ausgaben ganz zu schweigen. In den letzten Jahren beginnt sich dies erfreulicherweise zu ändern und auch die grafische Literatur punktuell so etwas wie ein Bewusstsein für die eigene Geschichte zu entwickeln. Wobei es als Verleger nach wie vor ein besonderes Wagnis ist, in einem Genre, das entweder nach wie vor als Massenmedium verkannt oder immer noch häufig als leichtgewichtig eingestuft wird, mit Klassikern zu reüssieren.

Stellvertretend für die Bemühungen vor allem kleinerer Verlage, die Comic-Kultur zu pflegen, zeichnet die Jury des Max und Moritz-Preises in diesem Jahr den Berliner avant-verlag, bislang eher für innovative zeitgenössische Comics und Graphic Novels bekannt, und damit den Verleger Johann Ulrich für drei herausragende und verdienstvolle Bücher mit einem Spezialpreis für seine Verdienste um die Pflege kulturellen Erbes aus: „Eternauta“, ein politisch prophetischer Science Fiction-Klassiker der Argentinier Héctor Germán Oesterheld (1919 bis vermutlich 1978) und Francisco Solano López (1926–2011), die virtuose grafische Adaption von Dashiell Hammetts Roman „Fliegenpapier“ des Künstlers Hans Hillmann (1925–2014) sowie „Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois und andere Geschichten“ von dem bereits von Goethe verehrten Künstler Rodolphe Töpffer (1799–1846), liebevoll gestaltet und herausgegeben vom Comic-Künstler Simon Schwartz.

Publikumspreis: "Crash 'n' Burn" (Mikiko Ponczek)

Es ist inzwischen schon gute Tradition, dass das Publikum im Vorentscheid für die Manga-Kategorie ein einheimisches Werk auswählt, einen sogenannten Germanga. Dies spiegelt nicht zuletzt die enge Verbundenheit der Künstler/innen dieser Werke mit ihren Lesern wieder, für die auch Mikiko Ponczeck steht. Die deutsch-japanische Comic-Zeichnerin veröffentlichte erste Werke zunächst unter ihrem Künstlernamen Zombiesmile im Internet, wo sie auf Youtube seit mehreren Jahren auch als Moderatorin verschiedener Online-Formate zu Mangas und Animes präsent ist. Seit fast zehn Jahren erscheinen ihre Mangas auch in gedruckter Form – zuletzt „Crash 'n' Burn“. Die in zwei Bänden abgeschlossene Miniserie gehört zum Genre „Boys Love“, in dem die romantische Liebe zweier Männer behandelt wird. In Mikiko Ponczecks Manga aus der Musiker-Szene geht es allerdings anders als in vielen anderen Geschichten dieses Genres außerordentlich handfest zur Sache, lernen sich die beiden Protagonisten Tyler und Kyle doch während einer veritablen Schlägerei bei einem Musikwettbewerb kennen.

Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk: Claire Bretécher

„Das ist doch wirklich Unsinn“, sagte Claire Bretécher vor einigen Jahren im Interview, als die Rede auf den Philosophen Roland Barthes kam, der sie einst die „wichtigste Soziologin Frankreichs“ nannte. Die Interviewerin hakte nach. Sie beobachte nicht, erklärte Bretécher, ihre gezeichneten Geschichten kämen aus ihrem sozialen Umfeld, und handelten mehr oder weniger von ihr selbst. Erst hinterher stelle sich dann heraus, dass eine ganze Menge Leute ihre Ansichten teilten. – Bretécher wirkt, noch Jahrzehnte nach dem Erscheinen der ersten „Frustrierten“-Comics, über diesen Umstand einigermaßen überrascht

Wenn der Max und Moritz-Preis für ein herausragendes Lebenswerk in diesem Jahr an Claire Bretécher geht, dann wird damit eine Künstlerin geehrt, deren Einfluss, spätestens seit ihrem endgültigen Durchbruch 1973, gar nicht überschätzt werden kann. Wer alt genug dafür ist, kann sich noch an die Bombe erinnern, die die urbanen Plapper-Szenarien aus Frankreich im deutschsprachigen Raum war (eine erste, gute Übersetzung erschien 1978 beim Rowohlt Verlag). Permanent unterspannte Frauen (und Männer) fläzten sich im Tuschestrich auf Sofas und Betten, hockten im Bistro, verhandelten Revolution und Rohrzucker, Religion und Menstruation und zu enge Hosen. Weinflasche und Zigaretten lagen griffbereit, der Kippschalter zur Hysterie war ebenfalls nie weit. Die „linke Elite“ nannte man diese Kreise damals, heute würde man „Bobo“ dazu sagen. Allein die Art, wie diese Figuren in Kissen versanken oder ihre Beine dreifach ineinander verschlangen und dabei redeten und redeten! Erfrischend hässlich waren sie auch. Schlabberpulli, Augenringe, Hüftspeck, Schlappen ... Und nie stimmte das, was sie wollten und glaubten, mit dem überein, was sie tatsächlich lebten. Daraus ergab sich der Humor, die Pointen, die Melancholie auch, die bei jedem überragenden Komiker mitschwingt.

Man muss von der Zeit reden, in der Bretéchers Alltagsstorys in unsere deutschsprachigen Leselandschaften platzten. Comics waren damals Cowboys und Raumfahrer, Micky Maus, das Zack-Magazin, die streng gehüteten Asterix-Alben der älteren Cousins ... ein paar Cartoonisten, der eine oder andere Zeitungsstrip mit klar beschränktem Horizont. „Die Frustrierten“ mit ihrem weichen Strich, ihrer thematischen Unerschrockenheit und pietätslosem Witz landeten in dieser Abenteuerwelt wie ein Samengeschoss von einem anderen Stern. Um sie herum sprossen bald viele ähnliche Gewächse, von Franziska Becker und Frida Bünzli bis Geneviève Castrée. Bretécher sei, meinte jüngst Catherine Meurisse von „Charlie Hebdo“, weiterhin ein „unterschwelliger Einfluss“ – selbst Zeichner, die ihre Arbeit nicht kennen, zeigten Spuren ihres Schaffens im zweiten oder dritten Grad.

Denn es gab ja im Anfang nur sie. Das Mädchen aus Nantes, geboren 1940 in eine bürgerlich-katholische Familie, bekam mit 15 vom Vater gesagt: „Wenn du erst einen Chef hast, dann wird er dich schon zurechtstutzen!“ Damals nahm sie sich vor, dass sie ihr eigener Chef bleiben würde. In Paris, nach der Ausbildung als Zeichenlehrerin, öffnete ihr René Goscinny die Tür zu einer Comic-Welt, die mit den Magazinen „Spirou“, „Tintin“, und „Pilote“ im Umbruch war – und entließ sie einige Jahre später mit der Bitte, wiederzukommen, wenn sie besser zeichnen könne. Mit Kollegen Marcel Gotlieb alias Gotlib und Nikita Mandryka entstand 1972 „L’Echo des Savanes“ („Gotlib wollte Schwänze zeichnen und Mandryka hatte eigene Anliegen. Für mich gab es keinen Grund, dabei zu sein, aber es klang unterhaltsam“). Elf Ausgaben des einflussreichen Underground-Magazins verantwortete sie mit, bevor sie 1973 überraschend zu „Le Nouvel Observateur“ wechselte, dessen Redakteur auf der Suche nach frischem Wind war. Auftritt: „Die Frustrierten“, gefolgt von „Die eilige Heilige“, „Die Mütter“, „Monika, das Wunschkind“ und schließlich die vielleicht meist geliebte Figur Bretéchers, die Teenagerin „Agrippina“. Längst war Bretécher ihre eigene Verlegerin geworden (auch in diesem Punkt galt: Kein Chef; heute werden die Bücher von Dargaud herausgegeben – auf Deutsch zuletzt von Reprodukt). Neben Sempé kamen ihre Haupteinflüsse vor allem aus den USA: Jules Feiffer, das MAD-Magazin, Johnny Hart.

Und ja, sie war eine Frau, die sich in einer Männerwelt behauptete (nicht schwer, versichert sie, wohlwissend, dass man das nicht von ihr hören will). Ab den „Frustrierten“ – „ich hatte meine Handschrift gefunden“ – bestimmt der weibliche Blick ihre gezeichneten Lebenswelten. Wie ungewöhnlich das war in einer Zeit, in der Frauen im Comic vor allem als kurvenreiche Pappfiguren auftraten! Wie normal das heute geworden ist! Auch das hat Bretécher uns vorgemacht: Dass Frauen wie Männer ganz hervorragendes Material für Helden-, und mehr noch für Antihelden-Geschichten abgeben. Pourquoi pas? Mit einem Comedy-Gespür zum Niederknien: Es wird uns eine Ehre sein, und höchste Zeit, Claire Bretécher den Max und Moritz-Preis 2016 für ihr herausragendes Lebenswerk zu verleihen.

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