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Träume von besseren Zeiten. Eine Seite aus „Dropsie Avenue“.

© Illustration: Eisner/Carlsen

Comics: Die Straße des Lebens

Will Eisner ist einer der wichtigsten Zeichner und Autoren der Comicgeschichte. Wie aktuell sein Werk bis heute ist, zeigt jetzt eine groß angelegte Neuausgabe seiner Graphic Novels.

Ein ums andere Mal war er verschoben worden, jetzt liegt er vor: Mit „Ein Vertrag mit Gott“ hat Carlsen den ersten aufwändig edierten Band einer dreibändigen Will Eisner-Bibliothek herausgegeben - eine Art Goethe-Gesamtausgabe fürs Comicregal, hochwertig gebunden, mit einer Reihe von exklusiv für diese Edition angefertigten oder überarbeiteten Zeichnungen Eisners - und Lesebändchen. An den erst etwas irritierenden Braun-Weiß-Druck gewöhnt man sich schnell; am Ende unterstreicht er eher den Klassikerstatus. Denn den besitzt Eisner fraglos: von zahlreichen Comickünstlern als Vorbild und vom Feuilleton als wichtigster Zeichner Amerikas bezeichnet, Namensgeber des wichtigsten amerikanischen Comicpreises (den er auch selbst mehrfach gewann), und Pionier der ernsthaften literarischen Erzählung im Comic. Die Neuausgabe der wichtigsten Geschichten auf Deutsch ist ein respektables Vorhaben des Verlags, und es passt gut, dass gerade dieser Künstler, der das Medium Comic als einer der Ersten ernst genug für anspruchsvolle Stoffe nahm, jetzt seinerseits als einer der Ersten ernst genug für eine solche Edition genommen wird.

Die Geschichten des vorliegenden Bandes spielen fast durchgehend in einer Straße der Bronx, von Eisner mit dem fiktiven Namen Dropsie Avenue versehen, aber - wie er in einem ausführlichen Vorwort anmerkt - durchaus seiner tatsächlichen Erinnerung nachempfunden. Den Anfang macht das Titelwerk, die legendäre Miniaturenreihe von 1978, bestehend aus vier Geschichten um das jüdische Leben in der Dropsie Avenue Nummer 55. Frimme Hersh schließt einen Vertrag mit Gott und erlebt seine eigene Version der Hiobsgeschichte, ein Straßensänger vermasselt eine große Chance, ein Hausmeister wird von einer blonden Göre fatal hereingelegt, und in „Cookalein“ verwebt Eisner eine Reihe von Geschichten aus den ländlichen Feriengegenden, in denen die Städter ihren Sommer verbringen.

Was unterscheidet den Menschen von der Küchenschabe?

Diese nehmen sich ebenso wie die anderen beiden, komplexeren Bücher des Bandes, „Lebenskraft“ und „Dropsie Avenue“, der großen Themen an - Zweifel an Gott und am Glauben, die Frage nach dem Sinn des Lebens, romantische Illusionen und ihr Verlust, Ehrlichkeit, Betrug und Vorurteile. All dies verpackt Eisner in Geschichten aus dem Mietshaus-Mikrokosmos einer Straße. Die Sinnsuche-Erzählung „Lebenskraft“ erzählt von Jakob Shtarkahs Frage nach dem Unterschied zwischen sich und einer Küchenschabe, oder auch: was das eigentlich alles soll. Hier fügen sich die zahlreichen Nebenstränge zu einer so klug wie liebevoll und letztlich optimistisch erzählten Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren, ohne dabei naiv zu sein. Liebe, Sex, Armut, Träume, Religion, Gewalt, politische Differenzen und Judenverfolgung werden sämtlich eingebunden, dabei ist die Charakterzeichnung trotz der Fülle an Personal dreidimensional und durchdacht.

Pionier. Eisners Erzählungen haben bis heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt.
Pionier. Eisners Erzählungen haben bis heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt.

© Carlsen

Das beeindruckende dritte Buch „Dropsie Avenue“ zeigt anhand einzelner Bronx-Biografien die Entwicklung eines Viertels über mehr als hundert Jahre, beginnend mit einem Bauernhof holländischer Einwanderer 1870 über den Villenbau der Engländer bis hin zu den Mietshäusern und deren Verfall. Die Geschichte dreht sich im Großen um den Lebenszyklus einer Gegend, um den andauernden Kampf für oder gegen Veränderung, und liefert nebenbei einen Überblick über die Geschichte der Bronx. Gut beobachtet und noch immer gültig, wie die jeweils Alteingesessenen die neu Zugezogenen als Ursache für den Niedergang des Viertels betrachten - über Jahrzehnte rümpfen Menschen hier die Nasen über (nach und nach) Engländer, Iren, Juden, Italiener, Latinos, Schwarze... die freilich trotzdem bleiben und den nächsten Lebensabschnitts des Viertels mitprägen. Drehten sich die ersten beiden Bücher vor allem um wenig begüterte jüdische Familien in den Mietskasernen - die Frauen oft wortgewaltig schimpfend und leidend, mit Kochen und Kindererziehung beschäftigt, die Männer auf der Suche nach Arbeit oder einer besseren Frau, sie alle mit dem Traum von besseren Zeiten - sind die Figuren hier vielfältiger. Eisner zeigt sie alle, die Snobs, die Verzweifelten, die Idealisten und die Profitgierigen, und vermittelt dabei ein zutiefst humanitär geprägtes Menschenbild. Und auch hier ist es gelungen, dass man den unzähligen Personen - auch wenn sie über fünfzig Seiten verschwunden waren - mit einem „Das war doch der...“ wiederbegegnet, wie einem alten Nachbarn

Wegbereiter der modernen Graphic Novel

Ein historisches Werk, nicht nur wegen der wegweisenden Bedeutung von „Ein Vertrag mit Gott“ für den Graphic Novel, sondern auch weil Eisners eigene Entwicklung als Zeichner und zunehmend ambitionierter Erzähler sich über die Bücher hinweg nachvollziehen lässt. Von einer noch eher karikaturesk geprägten Figurenzeichnung zu komplexeren Panels und Geschichten, immer lebendigeren Hintergründen. Der virtuose Umgang mit Licht und Schatten hat schon seinerzeit Zeichner und Regisseure inspiriert, und auch in Sachen Bildaufteilung hat Eisner sich nicht von gängigen Layout-Konventionen beeindrucken lassen. Manche Bilder nehmen die ganze Seite in Anspruch; Jakob Shtarkahs Briefwechsel mit seiner Jugendliebe Frieda Gold, der er bei der Flucht aus Deutschland hilft, werden elegant in die Handlung des zweiten Bandes eingeflochten. Die Küchendämpfe seiner unermüdlich kochenden und nörgelnden Frau Rifka verschwimmen mit denen des Dampfers, auf dem seine Jugendliebe über den Atlantik kommt, Zeitungsausschnitte dokumentieren den historischen Hintergrund: Flucht aus Deutschland, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise. Auch hierin hat er den Weg für eine neue Vielfalt im Comic bereitet und kann immer noch als Vorreiter für so aktuelle Werke wie „Tamara Drewe“ gelten.

Eine schöne Karriere für „Ein Vertrag mit Gott“, dessen erste Ausgabe in einer Auflage von 1500 Stück bei einem winzigen Verlag erschien, und ein schönes Zeichen der weiteren Anerkennung des Mediums Comic. Dem vorliegenden, mit einem Nachwort von Andreas C. Knigge abschließenden Band soll die Sammlung „New York“ folgen, ebenfalls mit vier Geschichten und angekündigt für August. Für den dritten Band, der sich inhaltlich wohl wie die anderen an der englischsprachigen Ausgabe orientieren wird, gibt es noch keinen festen Termin - noch etwas Zeit also, um den für das Prestigeobjekt nötigen Platz im Regal zu schaffen.

Will Eisner: Ein Vertrag mit Gott und andere Geschichten, übersetzt von Carl Weissner und Matthias Wieland, Hardcover, 528 Seiten, 36 Euro, Carlsen. Mehr unter diesem Link. Im Jüdischen Museum Berlin sind derzeit seltene Originale und frühe Werke von Eisner zu sehen, mehr dazu unter diesem Link.

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