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Brasilianische Ikonografie: Eine Doppelseite aus „Tungstênio“.

© Avant

Comics aus Südamerika: Die Entdeckung Brasiliens

Im Moment ist die brasilianische Comicszene besonders produktiv. Zwei deutsche Neuerscheinungen geben einen Eindruck von der wachsenden Vielfalt.

Als zwei Männer mit Dynamit vor der Küste der Großstadt Salvador im Nordosten Brasiliens fischen, führt das zu einem unerwarteten Zwischenfall. Ausgangspunkt des Comic-Thrillers „Tungstênio“, in dem der Autor und Zeichner Marcello Quintanilha einen außergewöhnlichen Einblick in die brasilianische Gesellschaft gewährt.

In Angoulême als bester Krimi ausgezeichnet

Die am Strand und in einer Favela angesiedelte und mit Sozialkritik aufgeladene Krimihandlung des Comics dient vor allem dazu, die besonderen Beziehungen zwischen den handelnden Figuren zu vermitteln, die stellvertretend für unterschiedliche Gruppen der brasilianischen Gesellschaft stehen: Seu Ney, ein Ex-Militär, verkörpert die Zeit der Diktatur, die zwar 1985 endete, in den Köpfen vieler Menschen aber weiterlebt und nach der sich manche Brasilianer zurücksehnen. Die Figur der Keira, die es nicht schafft, aus einer gewalttätigen Beziehung auszubrechen, ist durch ihre Jugend mit einem alkoholsüchtigen Vater ebenso geprägt wie durch die Erfahrung, dass sie als Bewohnerin eines Armenviertels kaum Perspektiven hat.

Comic-Thriller: Das Cover von „Tungstênio“.
Comic-Thriller: Das Cover von „Tungstênio“.

© Avant

Ähnlich geht es dem Kleindealer Caju. Und Undercover-Polizist Richard steht für den Trend in Brasilien, von sozialen Konflikten anhand von Polizeigeschichten zu erzählen, wie es die Filme „City of God“ oder der bei der Berlinale ausgezeichnete „Tropa de Elite“ tun. Helden auf verlorenem Posten wie Richard dienen dem Publikum als Identifikationsfigur, über sie wird zugleich Systemkritik vermittelt.

„Tungstênio“ wurde 2016 auf dem Comicfestival von Angoulême als bester Krimi ausgezeichnet. Er besticht neben seiner Handlung durch dynamische Perspektivwechsel und den Reichtum der Umgangssprache. Hinzu kommen ungewöhnliche, aber präzise Gesichtsausdrücke und Kleider- und Körperbewegungen sowie detailgetreue Ortsdarstellungen. Die Bildschnitte scheinen auf jede Absichtlichkeit zu verzichten, wie Fotografien, die man nebenher mit einem Handy aufnimmt. Der in Barcelona lebende Autor Marcello Quintanilha will mit seiner Ästhetik eine „brasilianische Ikonografie“ herausarbeiten, wie er es nennt.

Die Opfer der Kolonialzeit als Protagonisten

Neben „Tungstênio“ vermittelt ein zweiter kürzlich auf Deutsch erschienener Comic soziale, politische und kulturelle Aspekte des Lebens in Brasilien: „Cumbe“ von Marcelo D’Salete. Der lebt in São Paulo und gilt als einer der bedeutendsten brasilianischen Comicautoren der Gegenwart. In seinen ersten Alben porträtierte er die überwiegend dunkelhäutige Bevölkerung von Favelas.

Freiheitskämpfer: Eine Seite aus „Cumbe“ von Marcelo D’Salete.
Freiheitskämpfer: Eine Seite aus „Cumbe“ von Marcelo D’Salete.

© Bahoe Books

In den in „Cumbe“ versammelten Kurzgeschichten erkundet er die Perspektive der Afrobrasilianer im historischen Rückblick weiter, indem er die Opfer der Kolonialzeit zu Protagonisten macht: Sie sind Sklaven im Widerstand gegen ihre Herren in den Zuckerrohrmühlen. D’Saletes schwarz-weiße Erzählungen kommen mit wenig Worten aus und werden von Symbolen der Bantu-Kultur bereichert – die deutsche Ausgabe bietet ein erweitertes Glossar.

D’Saletes und Quintanilhas Bücher wurden übersetzt von Lea Hübner, die sich für den Transfer von Comics aus Ländern wie Brasilien und Spanien engagiert.

Es gibt noch viel zu entdecken

Im Moment ist die brasilianische Comicszene besonders produktiv, mehrere meist kleinere Verlage und viele junge, talentierte Autoren und Autorinnen machen mit neuen Werken auf sich aufmerksam. Auf Deutsch gibt es von der reichhaltigen Comicproduktion des Landes bislang nur eine kleine Auswahl zu lesen. So erschienen 2013, als Brasilien Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war, hierzulande drei bemerkenswerte Titel. In „Der Astronaut“ (Panini) interpretiert Danilo Beyruth eine beliebte brasilianische Kindercomicfigur neu. Und von den preisgekrönten Zwillingen Gabriel Bá und Fábio Moon sind bislang „Daytripper“ (Panini) und „De:TALES: Geschichten aus dem urbanen Brasilien“ (Cross Cult) erschienen.

Historischer Stoff: Das Cover von „Cumbe“.
Historischer Stoff: Das Cover von „Cumbe“.

© Bahoe Books

Für das kommende Jahr plant das Comicmagazin „Strapazin“ eine Ausgabe mit drei brasilianischen Comicautoren: Rafael Sica verwendet das sonst von Humor gekennzeichnete Comicstripformat für die Bearbeitung existenzieller Fragen; Rafael Coutinhos jüngstes Werk „Mensur“ beruht auf dem gleichnamigen, von deutschen Studenten im 15. Jahrhundert erfundenen Fechtkampf; und die Malerin Talita Hoffmann bewegt sich an den Grenzen zwischen Grafikdesign, Illustration und Comic.

Marcello Quintanilha: Tungstênio, Avant, 186 Seiten, 24,95 Euro.
Marcelo D’Salete: Cumbe, Bahoe Books, 176 Seiten, 19 Euro

Augusto Paim

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