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Aus Nigeria über Zypern in die USA. Chigozie Obioma.

© Scott Soderberg/Aufbau

Chiogozie Obiomas Debütroman "Der dunkle Fluss": Sterben wie ein Hahn

Düstere Prophezeiungen und blutige Wahrheiten: Chigozie Obioma entführt in seinem packenden Debütroman „Der dunkle Fluss“ in ein gewalttätiges Nigeria

Von Gregor Dotzauer

Propheten sind fragwürdige Gestalten. Falls sie tatsächlich wissen, was die Zukunft bringt, sprechen sie allen, die sie aus vermeintlich freien Stücken herbeiführen, die Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln ab – erst recht, wenn sie Verbrecherisches weissagen. Falls sie auf Wahrscheinlichkeiten hinauswollen, die sich aus der Summe vergangener Ereignisse manchmal erstaunlich zuverlässig errechnen lassen, handelt es sich nicht um eine Geheimwissenschaft, sondern um eine Vorhersage, die grundsätzlich jeder treffen kann. Falls sie aber Düsternisse kraft Suggestion überhaupt erst in die Welt bringen, machen sie sich mindestens so schuldig wie diejenigen, die auf ihre Einflüsterungen hören.

Abulu, der Prophet in Chigozie Obiomas Debütroman „Der dunkle Fluss“ (The Fishermen) gehört vielleicht noch zu einer vierten Spezies. Er ist kein Jesus, der in Erfüllung eines heilsgeschichtlichen Plans Petrus weissagt, dass dieser ihn dreimal verleugnen werde. In den Augen der Bewohner von Akure, einer Stadt im Südwesten Nigerias, ist er ein Mann des Teufels, ein Verrückter, der bei einem Autounfall den Verstand verloren hat, sich aus dem Müll und von Schlachthofresten ernährt, seine Mutter vergewaltigt hat und seinen Bruder umgebracht haben soll. Eine mehr als labile, von Wahnsinnsschüben heimgesuchte Existenz mit dem nicht ungewöhnlichen Vermögen, in anderen labilen Existenzen etwas zu wittern, das weder diese selbst noch andere wahrhaben wollen.

So malt er eines Tages an den Ufern des brackigen Omi-Ala dem 15-jährigen Ikenna Agwu und dreien seiner mit ihm angelnden Brüder in den finstersten Farben aus, wie er zu Tode kommen werde. „Du sollst sterben wie ein Hahn“, sagt er. Im Flugzeuglärm geht unter, was nur Ikennas elfjähriger Bruder Obembe hört, dass nämlich ein Fischer dafür verantwortlich sein werde. Ein Rätselspruch, den Ikenna derart entschlüsselt, dass er glaubt, sich vor seinen Geschwistern in Acht nehmen zu müssen. Wenig später rammt ihm sein fast gleich alter Bruder Boja ein Küchenmesser in den Bauch und ertränkt sich im elterlichen Brunnen.

Chigozie Obioma, 1986 selbst in Akure als fünftes Kind in eine Familie mit 11 Geschwistern und rivalisierenden älteren Brüdern geboren, gerät vor allem eine im Aberglauben befangene Gesellschaft in den Blick. Und doch lässt er auf raffinierte Weise offen, was an Abulus seherischem Talent Unheilssensibilität ist, was auf Kosten einer self-fulfilling prophecy geht, und wo die Geschichte mythologische Tiefenstrukturen aktualisiert, die Zeit und Ort der Geschehnisse, das Nigeria der Mittneunziger, transzendieren.

Aus dem Abstand von zwei Jahrzehnten erinnert sich Ben, der Erzähler und zweitjüngste von fünf Brüdern, die mit Nkem auch noch ein schwesterliches Nesthäkchen haben, an die Schicksalsspirale, in die er als Neunjähriger geriet. Was damals am Omi-Ala seinen sinistren Ausgang nahm, mündet in einen Ozean der Gewalt. Denn Gewalt ist offenbar die einzige Sprache, in der es den Figuren gelingt, sich miteinander zu verständigen. Sie ist vernehmlich, wenn der im Grunde liebevoll sorgende Vater seine Kinder mit der Lederpeitsche züchtigt. Sie äußert sich in dem geköpften Hahn, mit dem sich Boja und Ikenna an der Erdnüsse verkaufenden Nachbarin dafür rächen, dass sie ihrer Mutter von heimlichen Angeltouren erzählt hat. Sie steckt in der geistigen Zerrüttung, die von Ikenna Besitz ergreift. Und sie findet einen Höhepunkt in dem Mord an Abulu, dem Ben und Obembe das Fleisch mit Angelhaken aus dem Leib reißen – als Strafe für den scheinbaren Verursacher allen Verderbens.

Das Politisch-Historische ist nur Begleitmusik

Aus Nigeria über Zypern in die USA. Chigozie Obioma.
Aus Nigeria über Zypern in die USA. Chigozie Obioma.

© Scott Soderberg/Aufbau

Jedes Mal denkt man, es könne nicht noch schlimmer kommen, und jedes Mal nehmen die Geschehnisse eine Wendung in eben diese Richtung. Die sie auslösen, finden nicht die Kraft, dem Sog ab einem bestimmten Punkt zu widerstehen, sie bewohnen allerdings auch eine Welt, die ihnen das rationale Rüstzeug dazu nicht mitgegeben hat. Das Unheimlichste an Obiomas Roman ist denn auch, dass er keineswegs hartgesottene, sondern empfindsame Leser voraussetzt, die bereit sind, der psychologischen Unausweichlichkeit des Ganzen zu folgen.

Es beginnt mit einem Einschnitt, der wie einst bei Obioma die Familie spaltet. Der Vater wird von der nigerianischen Zentralbank aus Akure nach Yola an der Grenze zu Kamerun versetzt. Fortan kommt er nur noch jedes zweite Wochenende nach Hause und verliert von Mal zu Mal seinen Einfluss auf die heranwachsenden Söhne.

Im Hintergrund tobt mit der Armut auch eine strukturelle Gewalt, wenngleich zumindest die Brüder von ihrer äußersten Härte verschont bleiben. Um das Gebilde zu illustrieren, das bis heute am Abgrund eines failed state entlangschliddert, spielt auch die Erinnerung an die Unruhen des Jahres 1993 eine Rolle. Damals gewann Moshood Kashimawo Olawale Abiola, besser bekannt unter dem Kürzel M.K.O., die ersten demokratischen Präsidentschaftswahlen Nigerias. Die herrschende Militärdiktator Ibrahim Babangida wollte den Sieg nie anerkennen und brachte Abiola 1994 wegen angeblichen Hochverrats ins Gefängnis, wo er vier Jahre später an einem Herzinfarkt starb.

Doch gerade das Politisch-Historische ist eine Begleitmusik, die sich mit dem Grundstoff nur unzureichend verbindet – außer es sollte davon zeugen, dass auch auf diesem Gebiet ein irrationaler Weltzugang verhindert, Konflikte vernünftig zu lösen. Denn Obiomas Thema ist eine Autosuggestion, die von den Beteiligten nicht als solche erkannt wird, deren Folgen aber hemmungslos anderen zur Last gelegt werden. Erzwungen wirkt auch die Tiermetaphorik, mit der Obioma seine Figuren zum Anfang jedes Kapitels belegt. Und leider besitzt Nicolai von Schweder-Schreiners Übersetzung nicht ganz die rhythmische Geschmeidigkeit des englischen Originals. Sonst aber ist Obiomas Roman eine atmosphärisch dichte Lektüre – und eine radikale, um die Seelenruhe des Lesers keine Sekunde lang besorgte Leistung. Richtig ist, was der Stoff diktiert, und weil es nichts gibt, das die Beteiligten davon abhalten würde, so zu handeln, wie sie handeln, muss es in genau dieser Unerbittlichkeit erzählt werden.

„Der dunkle Fluss“ ist trotz seines historischen Fokus ein durch und durch zeitgenössischer Roman, der über das heutige Nigeria Auskunft geben will. Verglichen mit den an Michael Ondaatje und V.S. Naipaul geschulten Texten von Teju Cole ist er nur alles andere als erzähltechnisch modern. Obioma, der an der Universität im zyprischen Nikosia Englisch studiert hat und anschließend für einen Master in Creative Writing an die University of Michigan wechselte, mischt seine literarischen Einflüsse einfach anders als Cole oder Chimamanda Ngozi Adichie. Schon im Alter von neun Jahren verschlang er Homers „Odyssee“ in der Bibliothek seiner Schule. Später verliebte er sich in Thomas Hardys „Tess of the d’Urbervilles“, sieht seine Wurzeln aber auch bei Wole Soyinka und Chinua Achebe, die die Internationalität der nigerianischen Literatur erst begründeten, bei Autoren, die die Grenzen Nigerias kaum passiert haben, weil sie wie D.O. Fagunwa auf Yoruba schrieben, oder bei halb Vergessenen wie Amos Tutuola, den Dylan Thomas für seinen ersten Roman „Der Palmweintrinker“ pries.

In seiner starken Bildhaftigkeit besitzt er etwas Afrikanisches, das zugleich auf die Überwindung der Tradition angelegt ist: Obioma will seiner Kultur jeden Rest magischen Denkens austreiben, während im Westen die rein instrumentelle Vernunft nicht nur angesichts der Dialektik der Aufklärung schon wieder in Misskredit geraten ist. Eben dieses Anliegen sollte Obioma vor dem Vorwurf der literarischen Selbstexotisierung schützen, den der Anglist Tobias Döring kürzlich in der „FAZ“ erhob. Es ist wohl eher so, dass man das Archaische, dass sich dieser Roman vornimmt, erst einmal aushalten muss – und auch seinen zuweilen archaisierenden Zugriff, der sich nicht zuletzt aus der sich in ein kindliches Erleben einfühlenden Erzählperspektive ergibt. Wer das aber tut, erfährt etwas von einer befremdlichen Mentalität, die einem Obioma packend näherbringt.

Chigozie Obioma: Der dunkle Fluss.Roman. Aus dem Englischen von Nicolai Schweder-Schreiner. Aufbau Verlag, Berlin 2015. 313 Seiten, 19,95 €.

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