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Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe starb 2013 in den USA. Er gilt noch heute als Vaterfigur der modernen, afrikanischen Literatur.

© dpa

Chinua Achebes Roman „Einer von uns“: Die Unabhängigkeit frisst ihre Kinder

Nach einem halben Jahrhundert erstmals auf Deutsch: „Einer von uns“, Chinua Achebes bitterböse Satire auf ein fiktives Nigeria. Ein Roman, den die Wirklichkeit schnell eingeholt hat.

„Such deine Frau und verschwinde sofort.“ Diese Warnung rettet Chinua Achebe, der eine Abteilung des nigerianischen Rundfunks leitet, das Leben. Es ist Sonntag, der 31. Juli 1966, als einer seiner Mitarbeiter ihn anruft. Achebe hat bereits von der Unzufriedenheit innerhalb der Armee gehört. Doch er hat wie die meisten Nigerianer keine Ahnung, dass ein Putsch im Gange ist.

Es ist bereits der zweite in diesem Jahr. Im Januar haben Truppen unter Führung von General Kaduna Nzeogwu versucht, die Regierung zu stürzen und mehrere Politiker der Nordregion ermordet. Der Umsturz scheitert, doch der geflohene Staatspräsident überträgt die Macht auf den Igbo-General Johnson Aguiyi-Ironsi, der die Erste Republik Nigerias bald darauf auflöst und eine Militärregierung in Kraft setzt. Ironsi ist jetzt tot. Erschossen, wie seine Gefolgsleute und Tausende von Zivilisten, die man auf offener Straße oder im Schlaf hinrichtet. Die meisten von ihnen gehören – wie Achebe – der ethnischen Gruppe der Igbo an.

Die Soldaten hätten im Rundfunk nach ihm gesucht, erfährt Achebe, nun seien sie auf dem Weg zu ihm nach Hause. Anfang des Jahres hat der 35-Jährige seinen vierten Roman „The Man of the People“ veröffentlicht. Weil dieser mit einem Militärputsch endet, glauben die Soldaten, er sei in die Umsturzpläne involviert gewesen. Achebes Roman, der jetzt unter dem Titel „Einer von uns“ erstmals in deutscher Übersetzung erscheint, ist eine Abrechnung des 2013 verstorbenen Autors mit der neokolonialen Gesellschaft Afrikas. Mit Dekadenz und Mittelmaß, die viele Teile des Kontinents befallen haben, den korrupten Eliten und der Ignoranz der Massen, dem „Regime der vollen Fleischtöpfe und des Schmatzens, des Essen-und-essen-Lassens, das Anlass zu der Redewendung gab, dass ein Mann sich nur dessen sicher sein könne, was er seinem Bauch einverleibt habe, und zwar in der sehr zeitgemäßen Form You chop, me self I chop, palaver finish.“

Vaterfigur der afrikanischen Literatur

Achebe ist zu dieser Zeit neben dem Dramatiker und Romancier Wole Soyinka der wichtigste Intellektuelle des Landes. Er leitet die „African Writers Series“ des britischen Heinemann Verlags, die mit Autoren wie dem Kenianer Ngugi wa Thiong’o zur internationalen Front der modernen afrikanischen Literatur wird. Er selbst gilt mit seiner „Afrikanischen Trilogie“ als Vaterfigur. Sein Debüt „Things Fall Apart“ (Okonkwo oder das Alte stürzt) wird sofort zum Klassiker und ist bis heute der meistgelesene Roman eines afrikanischen Autors.

Achebe, 1930 in Nigeria geboren und 2013 in den USA gestorben, elf Jahre nachdem er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, hat mit diesen ersten Romanen gekämpft: gegen die Überheblichkeit der Europäer, die wie der Philosoph Hegel den Afrikanern absprach, eine eigene Geschichte zu haben. „Einer von uns“ ist eine Kampfansage in die andere Richtung: vom äußeren Feind, der die Kolonialherren waren, zum inneren, der die Afrikaner sich nach der Unabhängigkeit selbst geworden waren.

Eine bitterböse Satire

In der bitterbösen Satire über einen fiktiven Staat begegnet Odili, der westlich gebildete Erzähler, seinem ehemaligen Lehrer M.A. Nanga, der zum Kulturminister aufgestiegen ist. Seine Eignung ist sein Charisma, sein ungezwungenes Reden. Lesen kann er kaum, und den berühmtesten Schriftsteller des Landes hält er für einen Sänger. Es ist nicht schwer, in ihm die Verkörperung der Politikerklasse zu erkennen, die sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichert. Genauso aber wird Odili, der bald mit ihm rivalisiert, zwischen den Zeilen als selbstgerechter Nationalist entlarvt.

Mit dem Roman gelingt es Achebe, der Enttäuschung Ausdruck zu verleihen, die viele afrikanische Autoren nach der Unabhängigkeit überwältigt. „Die alten, weißen Meister waren immer noch an der Macht“, schreibt er resignierend in einem Essay im Jahr darauf. „Sie hatten sich jetzt nur ein paar schwarze Handlanger gesucht, um ihre Drecksarbeit zu erledigen.“ Der Roman findet dafür Bilder, die ebenso komisch wie niederschmetternd sind. Von den Jägern, die ihre erschossene Beute im Dunkeln nicht finden und dann die zwei Geier loswerden müssen, die am nächsten Morgen um sie herumkreisen. Von dem Haus, in das sich „die Cleveren“ nach Abzug der Herren verschanzt haben und den im Regen stehenden Rest mit einer Armee von Lautsprechern überzeugen wollen, dass die nächste Etappe ihres glorreichen Sieges darin besteht, das Dach auszubauen.

Die Wirklichkeit holt den Roman ein

Es ist aber auch ein Porträt der Schicksalsergebenheit der Massen, die durch die koloniale Unterdrückung träge sind, von falschen Versprechungen genug haben. Und sich damit nicht nur den Verhältnissen ausliefern, sondern durch ihren eigenen Zynismus mittragen. „Lasst sie essen“, denken sie. „Haben wir uns etwa umgebracht, als die Weißen alles aßen? Und überhaupt, wenn du selbst überlebst, dann wirst vielleicht du morgen mit dem Essen dran sein, wer weiß.“

Als Achebe den Roman im Januar 1966 einer Reihe von Intellektuellen vorstellt, ruft ein Journalistenkollege euphorisch aus, Achebe sei ein Prophet. Alles in dem Roman sei bereits so in Nigeria geschehen – bis auf den nachfolgenden Militärputsch. Am Tag danach wird der Schriftsteller am Eingang des Rundfunkgebäudes von Soldaten begrüßt. Der erste Umsturzversuch ist am frühen Morgen, einige Stunden nach der Romanvorstellung, abgewendet worden. Die Erste Republik Nigerias wird aufgelöst und der zweite Putsch, der die Region für Jahre ins Chaos stürzt, folgt. Genauso wie der Anruf, der dem Schriftsteller gerade noch das Leben rettet.

Chinua Achebe: Einer von uns. Roman. Aus dem Englischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016. 192 Seiten, 19,99 €.

Giacomo Maihofer

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