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Gegen den Fanatismus. Die Berliner Publizistin Carolin Emcke.

© Andreas Labes

Carolin Emcke im Interview: „Lieber politisch korrekt als moralisch infantil“

Am Sonntag wird sie mit dem Friedenspreis ausgezeichnet: Die Berliner Publizistin Carolin Emcke im Interview über Hass, enge Weltbilder und Hysterie.

Frau Emcke, Sie schreiben in Ihrem neuen Buch „Gegen den Hass“, dass sich hierzulande etwas verändert hat: „Es wird offen und hemmungslos gehasst“. Aber war das nicht schon immer so? Ist es nicht vielmehr so, dass der Hass nun, katalysiert durch das Internet, über die Stammtische hinausdrängt? Haben wir es also nicht eher mit einer erhöhten Wahrnehmbarkeit des Hasses zu tun als mit einer neuen Qualität?
Ich glaube, beides ist richtig. Natürlich gab es in der Bundesrepublik immer Ressentiments und Orte, an denen der Rassismus gewalttätig ausgebrochen ist. Andererseits erleben wir derzeit nicht nur im Internet, sondern auch auf der Straße eine Form von Entgrenzung und Selbstbewusstsein, die schon erstaunlich ist. Da sind Leute nicht nur der festen Überzeugung, selbst im Recht zu sein, sondern sie sind sich auch sicher, andere Menschen grundsätzlich angreifen zu können. Dieses Selbstbewusstsein braucht ein größeres Umfeld, in dem es sich geschützt und gefördert weiß. Das geschieht nicht mehr ausschließlich in randständigen Bereichen, sondern ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Zudem hat die Intensität der Aggression im öffentlichen Raum zugenommen.

Schon in den Neunzigern brannten Asylbewerberheime, und ein brüllender Mob stand davor.
Damals gab es aber auch massive Gegenreaktionen. Es gab nicht diesen entschuldigenden Diskurs über die angeblich doch so verständlichen Motive, die angeblich nachvollziehbaren Ängste. Das ist jetzt schon deutlich anders.

Diese Ummäntelung des Hasses geschieht derzeit auch unter dem Stichwort Sorge. Das weisen Sie in Ihrem Buch klar zurück. Wieso nehmen Sie den besorgten Bürgern ihre Ängste nicht ab?
Der Begriff der Sorge ist Kern einer klar komponierten Erzählung. Dabei wird die Sorge, die manche Menschen berechtigterweise angesichts von sozialen und politischen Missständen oder prekären Arbeitsverhältnissen empfinden, vorgeschoben, um die Grenzen des Sagbaren zu verrücken und dahinter Ressentiments zu verbergen. Es ist doch bemerkenswert: Man tut so, als ob ein Gefühl an sich bereits ein politisches Argument darstellte. Aber Gefühle lassen sich auch befragen: wie zutreffend sie sind, wie verhältnismäßig, wie angemessen. Das lernt jedes Kind. Wir dagegen erleben einen Diskurs, der Affekte unkritisch aufgewertet sehen will. Das hat auch etwas leicht Infantiles.

Sie sind als offen homosexuelle Publizistin selbst ein potenzielles Hassziel. Haben Sie in der letzten Zeit mehr beleidigende Kommentare und Zuschriften bekommen?
Nein. Bislang hält sich das glücklicherweise in Grenzen. Ich lese allerdings auch kaum Kommentare im Netz. Natürlich ist gelegentlich mal ein Brief dabei, in dem steht „Sie sind entartet“. Aber massiv ist es nicht. Könnte sein, dass sich das nach meiner Friedenspreisrede in Frankfurt ändert …

Wird es da auch um Hass gehen?
Netter Versuch (lacht). Das soll ja eine Überraschung sein.

Dann zu etwas anderem: Das an sich menschenfreundliche Konzept der politischen Korrektheit wird inzwischen nur noch als lächerlicher Irrweg verspottet und teilweise in die Nähe von Zensur gerückt. Was ist da schiefgelaufen?
Das ist eine wichtige Frage, auf die ich keine eine einfache Antworte habe. Es ist trostlos, dass der Begriff „guter Mensch“ tatsächlich zu einer Denunziation geworden ist. Ich bin doch lieber politisch korrekt als moralisch infantil. Seien wir mal ehrlich: Größtenteils geht es doch um sehr einfache Formen der Höflichkeit, um die da gestritten wird. Aber ich glaube, es gab auch kommunikative Missverständnisse. Ich frage mich auch, ob wir, die wir einen sensibleren Umgang mit unserer jeweiligen Gruppe fordern, durch die ständigen Demütigungen derart verwundet sind, dass wir bitterer klingen, als wir wollen.

Inwiefern?
Das kenne ich auch von mir selbst: Wenn man zum x-ten Mal verletzt oder auch nur unangenehm angesprochen wird, merkt man irgendwann, dass die Schutzschicht dünner geworden ist und reagiert eventuell aufgeregter oder verwundeter, als es der einzelne Anlass hergeben würde. Es ist aber kein einzelner Anlass, sondern eine Struktur. Das müssen wir, die Betroffenen, noch besser kommunizieren.

Wie kann das aussehen?
Ach, das ist nicht leicht. Ich bin ja selbst im ersten Moment oft sprachlos, eben weil ich so getroffen bin. Ich reagiere oft viel zu spät. Ich glaube, ich wünsche mir von mir selbst, in manchen Situation schneller und entschiedener zu widersprechen. Und in anderen Situationen mir aber zu überlegen, warum jemand da so spricht. Wir unterstellen oft Absicht bei denjenigen, die uns verletzen. Aber da ist manchmal auch Unwissenheit im Spiel. Wer anstrebt, dass die Gesellschaft und die Sprache inklusiver wird, muss drüber nachdenken, ob die eigene Sprache zu exklusiv ist. Ich fürchte, wir müssen unsere Erfahrungen und Perspektiven immer wieder so erläutern, dass sie auch verständlich sind für diejenigen, die sie nicht kennen. Wir denken oft: Müsste doch jetzt langsam mal allgemein bekannt sein.

Es herrscht eine seltsame Ungleichzeitigkeit: Einerseits ist die Sensibilisierung für die Interessen und Bedürfnisse von Minderheiten so hoch wie nie zuvor, gleichzeitig quellen die sozialen Netzwerke über vor Hate Speech. Gibt es da eine Verbindung?
Eine direkte Verbindung besteht da nicht, aber Ungleichzeitigkeit sehe ich auch. Ein persönliches Beispiel: Nach einer Lesung in einer deutschen Großstadt bedankte sich einmal eine junge Frau bei mir – aber nicht für die Lesung. Sie sagte, dass sie nach dem Lesen meines Lebenslaufes dachte: „Wenn jemand wie die (gemeint war, eine Person, die homosexuell oder queer ist) in Harvard studieren kann, dann kann ich das auch.“ Sie hat sich dann in Oxford beworben und ist angenommen worden. Das war großartig, aber auch traurig: dass jemand sich selbst die eigenen Träume nicht zutraut, weil sie denkt, ihr wird der Zugang nie gestattet.

Sie sagen, Hass ist etwas Gemachtes, nichts, was einfach so da ist. Weshalb sind die Macher und Manipulatoren sowohl in Europa als auch in der arabischen Welt derzeit so erfolgreich?
Wenn ich das wüsste … In meinem Buch spekuliere ich darüber nicht. Das können Soziologen oder Historiker sicher besser. Momentan ist es wie eine Black Box. Jeder sucht Erklärungen aus der eigenen Perspektive heraus. Mir leuchten verschiedene Analysen ein: Sozialpsychologen wie Ernst-Dieter Lantermann sagen, es hat mit Verunsicherung zu tun, die dann damit beantwortet wird, dass Komplexität reduziert wird. Die Experten für soziale Medien betonen die dort eingebaute Eskalationslogik. Aber ich bin vorsichtig, solche Phänomene über Ländergrenzen hinweg zu beurteilen.

Neo-Rechte und Islamisten haben ähnliche Denkmuster

Gegen den Fanatismus. Die Berliner Publizistin Carolin Emcke.
Gegen den Fanatismus. Die Berliner Publizistin Carolin Emcke.

© imago

Ihnen geht es erst mal um eine genaue Beschreibung.
Ja, ich versuche, Hass in seiner Entstehung zu analysieren. Mich interessiert die Mechanik und die Logik dieses Fanatismus, um zu zeigen, an welchen Stellen er sich unterbrechen lässt. Dazu muss man analysieren, welche Raster der Wahrnehmung, welche Muster es braucht, damit Menschen, die in Clausnitz vor einem Bus mit verängstigten Menschen stehen, weder die Angst noch die Menschen sehen. Man muss analysieren, wie die Ressentiments der Hassenden geformt werden, dass sie andere nur als „Kriminelle“, „Invasoren“ oder „Terroristen“ wahrnehmen.

Und wo werden diese Wahrnehmungsraster geprägt?
Unter anderem in rechten Internetforen, die ich mir bei der Recherche angesehen habe. Dort wird ein geschlossenes, sehr verengtes Weltbild verbreitet: Individuen werden zu Kollektiven gemacht. Die Kollektive werden mit bestimmten negativen Assoziationen verkoppelt und wieder und wieder in Bildern und Geschichten wiederholt. Das ist eine sehr hysterische, sehr aufgeregte Welt im permanenten Ausnahmezustand. Wie „Aktenzeichen XY ungelöst“. Nur dass hier die Fälle alle als gelöst präsentiert werden. Immer sind die Muslime schuld oder die Presse oder die Politiker.

Sie sehen Ähnlichkeiten in den Denkmustern von Neo-Rechten und islamistischen Fanatikern. Wo ist da die Verbindung?
Sie funktionieren wie eine Spiegelfigur. Beide sind Ideologen der Reinheit. Sie können weder Vielfalt noch Hybridität aushalten. Einerseits wird da ein völkischer Nationalismus propagiert, der mit dem Begriff einer angeblich homogenen Nation arbeitet. Die salafistischen Dschihadisten vertreten die Vorstellung von einem angeblich reinen, ursprünglichen Islam und unterdrücken ihrerseits alles Abweichende. Beide lehnen kulturelle oder religiöse Pluralität oder auch nur Uneindeutigkeit ab. Wobei ich natürlich das Gewaltpotenzial nicht gleichsetzen möchte.

Beide scheinen auch eine sehr apokalyptische Weltsicht zu haben.
Ja, in der Tat. Die Erzählung der permanenten Bedrohung, das Herbeisehnen von etwas Bürgerkriegsähnlichem. In rechten Foren ist das ein großes Thema. Dort herrscht ein Dauerbombardement mit Schreckensnachrichten. Man wird beim Lesen ganz nervös. Natürlich gibt es eine Restanbindung an Fakten, die Terrorbedrohung ist ja nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber es wird alles auf eine apokalyptische Eskalation hin zugespitzt.

Die Faktentreue scheint derzeit allgemein im Sinkflug zu sein. Es wird vielfach schon vom Zeitalter des Post-Faktischen gesprochen. Wie geht man dagegen an?
Als Journalistin bin ich in der privilegierten Position, dagegen schreiben zu können. Mit Texten, die sich auf die reale Welt und Fakten beziehen. Es war beängstigend, wie etwa die Unwahrheiten, die im Vorfeld des Brexit-Referendums verbreitet wurden, nicht ausreichend enttarnt wurden. Für mich ist im Moment die drängendste Frage: Wo finden heutzutage die Prozesse demokratischer Willensbildung statt? Die klassischen Medien haben hier offensichtlich ihre Wirkungsmacht eingebüßt.

Sie haben als einen solchen Ort der Willensbildung kürzlich in ihrer Diskussionsreihe „Streitraum“ an der Schaubühne das Theater ausgemacht. Was macht Ihnen da Hoffnung?
Das hat etwas mit dieser Veranstaltungsreihe zu tun, die ich nun schon seit zwölf Jahren moderiere. Mich rührt es ungeheuer, dass sonntags um 12 Uhr so viele Menschen kommen und einfach mit uns auf dem Podium zusammen nachdenken wollen. Die Atmosphäre ist wirklich schön. Aber auch jenseits davon: das Theater selbst. Im Theater gelingt noch etwas, das es sonst kaum mehr gibt. Die Vorstellungsräume und die Zonen der Empathie werden ausgeweitet. Die Zuschauer denken, es gehe auf der Bühne um die Leben von anderen, doch ehe sie sich versehen, verlieren sie sich in diesen Figuren und in deren Erfahrungen. Das ist großartig.

Wie sehen Sie als Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels die Entscheidung den kolumbianischen Präsident Juan Manuel Santos mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen? Sie haben ja zu Zeiten seines Vorgängers Uribe aus Kolumbien berichtet.
Ich war zunächst einmal überrascht von der Referendumsentscheidung gegen das Friedensabkommen und hatte befürchtet, dass das ein erneutes Aufbrechen von Gewalt zur Folge hätte. Natürlich hat der ehemalige Präsident Uribe auch gegen dieses Abkommen agitiert. Beim Friedennobelpreis stellt sich die Frage, ob neben Präsident Santos nicht auch die Rebellen ihn erhalten sollten, die sich für das Abkommen eingesetzt haben. Das ist heikel. Aber selbst Íngrid Betancourt, die jahrelange Geisel der Farc war, sah eine gewisse Unwucht in der Entscheidung. Ich verstehe es so, dass das Nobelpreis-Komitee einen Prozess auszeichnet und das Signal sendet: Versucht, einen neuen, für alle akzeptablen Vertrag, auszuhandeln.

Eine weitere Gegend Ihrer früheren Reportagereisen erlebt während wir sprechen ebenfalls eine dramatische Zeit: Die irakische Armee versucht, zusammen mit kurdischen Peschmerga-Kämpfern Mossul vom IS zu befreien. Kribbelt es da bei Ihnen, wieder hinzufahren?
Ja. Ich verfolge das derzeit mit angehaltenem Atem. Die Gegend kenne ich gut. Sollte die Einnahme durch irakische und kurdische Einheiten tatsächlich gelingen, ist jedoch völlig unklar, welche Wellenbewegungen der Gewalt das noch auslösen wird. Grundsätzlich spüre ich: Ich bin jetzt schon zwei Jahre in Berlin und die Ferne fehlt mir doch. Wenn man mich lässt, würde ich gern bald wieder mehr reisen.

Das Gespräch führte Nadine Lange.

Carolin Emcke: Gegen den Hass. Frankfurt a. Main 2016, S. Fischer Verlag, 240 S., 20 €.

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