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Bange Blicke. Colin Farrell und Kirsten Dunst in „The Beguiled“.

© Festival

CANNES Journal (7): Begehren und manische Wucht

Man wäre in diesen Tagen gerne Mäuschen in der Jury. Gar nicht mal, um herauszufinden, welche Filme im Wettbewerb um die Goldene Palme die Nase vorn haben.

Von Andreas Busche

Man wäre in diesen Tagen gerne Mäuschen in der Jury. Gar nicht mal, um herauszufinden, welche Filme im Wettbewerb um die Goldene Palme die Nase vorn haben. In dieser Frage ist die Jury um Pedro Almodóvar nicht zu beneiden. Es gibt klangvolle Namen wie Michael Haneke, Andrei Swjaginzew, Jacques Doillon, Naomi Kawase oder Sergei Loznitsa, die mit soliden Filmen angetreten sind. Andere Regisseure wie Arnaud Desplechin, Bong Joon-ho oder Michel Hazanavicius erwiesen sich als Totalausfälle. Nein, die Frage, die einen wirklich beschäftigt, lautet: Wie reden Netflix-Versteher Will Smith und Maren Ade wohl über das Kino? Kann man sich nach Kornél Mundruczós „Jupiter’s Moon“ anregende Diskussionen über Geflüchtete als Heiligenfiguren im kriselnden Europa vorstellen? Oder Gespräche über die Krise der bürgerlichen Familie, wie Michael Haneke sie in „Happy End“ vorführt? Vielleicht macht man es sich auch zu einfach, von einem filmischen Gesamtwerk auf einen Filmgeschmack zu schließen. Jurys sind unberechenbar. Maren Ade, die letztes Jahr trotz Favoritenrolle leer ausging, weiß das am besten.

Ade hat mit „Western“ von Valeska Grisebach, einer der stärksten Beiträge im Gesamtprogramm, einen Film produziert, der sich bei Genremotiven bedient. Und im Wettbewerb ist Sofia Coppola mit dem Western-Remake „The Beguiled“ vertreten, das von weiblichem Begehren erzählt. Coppola wählte für ihren ersten Genrefilm eine untypische Vorlage. Thomas P. Cullinans Roman „A Painted Devil“ wurde bereits 1971 mit Clint Eastwood verfilmt: ein Kammerdrama während des Sezessionskriegs über einen Corporal der Nordstaatenarmee (Colin Farrell), der schwer verletzt in einer Mädchenschule in Virginia von Martha Farnsworth (Nicole Kidman) unterkommt. Die Anwesenheit des Mannes sorgt für Spannungen unter den Mädchen und Frauen. Coppola arbeitet mit verhuschten Blicken und vieldeutigen Gegenschnitten, um die erotische Dynamik unter der prüden Oberfläche bloßzulegen.

Ihr spielerischer Zugriff auf den altmodischen Stoff bekommt durch leichte perspektivische Verschiebungen eine Offenheit, die den Racheplot des Originals in den Hintergrund treten lässt. Hin und wieder blitzt sogar Humor in dem schwelenden Konkurrenzkampf auf. Es geht in „The Beguiled“ in erster Linie um die Handlungsspielräume der pubertierenden Mädchen (Elle Fanning) und erwachsenen Frauen (Kirsten Dunst), Farrells Figur bleibt eine Projektion. Dazu gibt der amerikanische Süden eine malerische Southern-Gothic-Kulisse.

Um eine Revision klassischer Genremotive geht es auch im fünften US-Film des Wettbewerbs, der das Teilnehmerfeld ordentlich durchpustet. „Good Time“ von Joshua und Ben Safdie handelt von zwei Brüdern und einem Banküberfall, der furchtbar schiefgeht. Als der geistig behinderte Nick, gespielt von Ben Safdie, von der Polizei gefasst wird, setzt Nick (Robert Pattinson als schmieriger Fuck-up) alles daran, seinen Bruder aus dem Polizeigewahrsam zu befreien. Doch jeder Rettungsversuch verschlechtert die Situation Nicks, der auf der Flucht einen aggressiven Überlebensinstinkt entwickelt.

Die Safdie-Brüder machen aus dem „Hundstage“-Szenario eine Tour de Force, indem sie immer wieder gekonnt das Tempo herausnehmen. Der harte, pulsierende Soundtrack von Oneohtrix Point Never verdichtet die Fluchtbewegungen zu kinetischer Energie. „Good Time“ besitzt eine manische Wucht, die im Arthousekino viel zu selten geworden ist. In Cannes wirkt er wie ein Gegenmittel gegen die vielen bemühten, oftmals überambitionierten Filme in der Konkurrenz. So gewinnt man vielleicht keine Goldene Palme. Aber man erweckt den Wettbewerb aus seinem Dämmerzustand.

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