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Ausnahmezustand. Soldaten patrouillieren auf der Grande Place von Brüssel.

© Olivier Hoslet/dpa

Brüssel, Paris und der Terror: Stefan Hertmans im Gespräch: "Schaffen wir’s nicht, schafft’s keiner in Europa"

Der belgische Schriftsteller Stefan Hertmans über die Lage in Brüssel und die Kompromissvirtuosität seiner Landsleute.

Dieses Interview erschien im November 2015 nach den Terroranschlägen in Paris auf den Kulturseiten im Tagesspiegel. Die Anschläge von Brüssel werfen die Frage nach den Lebensumständen in Brüssel samt seinem Stadtteil Molenbeek wieder auf und verleihen den Einschätzungen von Stefan Hertmans eine traurige, neue Aktualität.

Herr Hertmans, seit den Terroranschlägen in Paris ist der Brüsseler Stadtteil Molenbeek in aller Munde, als Keimzelle des Terrors, weil einige der Attentäter von hier kamen. Sie leben nur wenige Kilometer entfernt von Molenbeek. Was ist dort schiefgelaufen?

Zunächst muss man sagen, dass es das eine Molenbeek gar nicht gibt. Es gibt einen mehr bürgerlichen, wenn sie so wollen: gentrifizierten Teil, in dem auch Freunde von mir wohnen. Und eine eher heruntergekommene Gegend. Die Probleme dort fingen schon an, als die U-Bahn gebaut wurde. In Molenbeek war das eine städtebauliche Katastrophe. In die unattraktiven Straßenzüge, durch die die U-Bahn gezogen wurde, quartierte man die Einwanderer aus dem Maghreb ein: die erste Generation, die noch sehr passiv, sehr ruhig war, und die zweite Generation, die dann Läden und Restaurants eröffnete und das Viertel aufwertete. Richtig problematisch ist es mit der dritten Generation geworden, mit denen, die hier geboren sind, die einen belgischen Pass, aber trotzdem keine Chance haben.

Warum ist gerade diese Generation so ein Problem? Warum hat sie keine Chance?

Sie verstehen sich als Belgier, haben unsere Kultur, wollen Teil der Wohlstandsgesellschaft sein, werden daran aber gehindert. Allein ihr Name verhindert zum Beispiel, dass sie Jobs bekommen. Und dann hat man sie sich selbst überlassen, auf belgische Art: Wir sind tolerant, die schaffen das irgendwie. Dazu kommt: Wenn in Molenbeek viel investiert wurde, dann von Saudi-Arabien, in Form teurer Moscheen und fanatischer Imame, die die vernachlässigte Jugend radikalisierten, den Salafismus nach Belgien brachten. Petrodollars werden investiert in Brüsseler Moscheen, das ist bigotte Realpolitik, über die wir nachdenken sollten. Das Dritte ist natürlich das Internet, die Kontakte nach Syrien, zum IS – aus einem lokalpolitischen ist ein globales Problem geworden.

In Brüssel gilt gerade die höchste Terrorwarnstufe. Wie ist das für die Bewohner?

Solche Bilder hat es seit 1945 nicht mehr gegeben, mit den vielen bewaffneten Soldaten, den Panzerfahrzeugen, der Polizei überall. Mein Sohn kann nicht mehr an die Universität gehen, Schulen, Kindergärten sind geschlossen, die U-Bahn fährt nicht. Doch die Bevölkerung versteht das – und nimmt das auch mit Humor, was auch typisch belgisch ist: Viele Leute haben Katzenbilder ins Internet gestellt oder die Pfeife von René Magritte, unter der jetzt steht: „Ceci n’est pas Bruxelles.“

Sie haben geschrieben, dass man in Belgien lange Zeit sehr naiv gewesen sei. Versucht man dieser Naivität jetzt mit den Razzien und dem Terroralarm beizukommen?

Ja, einen der Drahtzieher hatte man schon einmal festgesetzt und wieder entkommen lassen, Abdelhamid Abaaoud, der in Saint-Denis getötet wurde. Die blöden Belgier, hieß es da. Das soll nicht wieder vorkommen. Was aber Belgier wie Franzosen gelernt haben, auch das meine ich mit Naivität: Frankreich endet nicht an der offiziellen belgischen, sondern an der flämisch-frankophonen Grenze. Terroristen denken nicht territorial, sondern arbeiten in Netzwerken. Französisch ist ihre Verkehrssprache, Brüssel eine Art Zwillingsstadt von Paris.

Wie unterscheiden sich die Banlieues von Paris von den Brüsseler Problemvierteln?

Die Unterschiede liegen in der kolonialen Vergangenheit. Die Belgier mussten die Kongolesen integrieren, was einigermaßen funktionierte, genau wie Polen oder Türken, die in verschiedenen Einwanderungswellen kamen. Mit den Maghrebinern war es anders, das wurde unterschätzt, deren politisch-historische Wurzeln liegen in Frankreich. Die französischsprachigen Maghrebiner verschwanden in Belgien praktisch vom Radar der Franzosen, die tauchten in Brüssel quasi unter. Dafür zahlen wir jetzt.

Also ist Belgien anfälliger für den Terrorismus als andere Länder?

Es ist schon ein gesamteuropäisches Problem. Aber die politische Gemengelage, das belgische Demokratieverständnis nach dem Motto: ,Ich mache, was ich will, du machst, was du willst, und wir lassen uns in Ruhe‘, diese Art Nachlässigkeitskultur, unsere Kompromissvirtuosität, gerade wegen der vielen Kulturen hier, bietet vielleicht einen idealen Nährboden. Gerade in Brüssel, wo die Verwaltungsverantwortung enorm komplex ist. Dazu kommen sich die beiden großen Sprachgruppen immer wieder ins Gehege, die Flamen und die Frankophonen.

Welcher Art sind diese Streitigkeiten?

Brüssel mit seiner hauptsächlich französischsprachigen Bevölkerung liegt mitten in Flandern, wo Niederländisch gesprochen wird, und breitet sich an den Rändern aus. Hier erheben sich dann die Frankophonen über die Flamen, die in ihren Augen noch immer rückständig, provinziell sind. Obwohl ja nicht zuletzt Descartes und Spinoza in die Niederlande geflüchtet sind, nicht nach Frankreich. Viele Frankophone kennen die niederländische Kultur noch immer nicht. Es gibt zwei Definitionen von Demokratie: Die Franzosen sagen, dass man das Recht hat, seine Muttersprache überall zu sprechen („droit de gens“) . Die Flamen dagegen sagen, dass man die Sprache des jeweiligen Sprachgebietes sprechen soll („droit de sol“). Die Frankophonen verachten territoriale Verabredungen über die Sprache aber als eine Art Blut-und-Boden-Politik. Das kann man lächerlich finden, als Palaverdemokratie bezeichnen, aber solche Auseinandersetzungen sind in mehrsprachigen Räumen nicht zu unterschätzen.

Sie haben einmal vom „vitalen, wirklich kosmopolitischen Charakter dieser unglaublich chaotischen Gesellschaft“ in Brüssel gesprochen. Bezieht sich das Chaotische auch auf Belgiens Regierungsfähigkeit?

Wir haben immerhin fünf Regierungen! Eine belgische Föderalregierung, eine flämische Regierung mit eigenem Parlament, eine französischsprachige, also wallonische, mit eigenem Parlament, genauso eine deutsche – und noch eine autonome Regierung nur für Brüssel wegen der vielen Sprachgruppen mitsamt eigenem Präsidenten, Rudi Vervoort, einem Frankophonen, der flämische Forderungen nach nur einem Brüsseler Bürgermeister ablehnt: Brüssel hat 19 Bürgermeister, 19 Gemeinden, sechs Polizeibehörden. Die Flamen fordern Zentralismus und Effizienz, die Frankophonen sind für Bürgernähe, das Kommunale. Dazu kommt das EU-Parlament mitsamt Institutionen und Wohngebieten, das EU-Nato-Brüssel, das nicht wirklich integriert ist und wie ein autonomes Viertel in der Stadt liegt, aber doch auch eine große Dynamik mit sich bringt. All das kann man chaotisch finden, funktioniert aber!

Leben Sie gern in Brüssel?

Ja, sehr gern, seit über 12 Jahren, gerade weil die Stadt so international, so globalisiert ist. Brüssel ist ein Labor für die Zukunft Europas. Wenn wir das nicht schaffen, schafft es niemand in Europa. Brüssel ist eine besetzte Stadt, und zwar in dem Sinn, dass sie wegen ihrer Internationalität niemandem wirklich gehört. Man kann sagen, dass sie immer wieder aufs Neue besetzt wurde, ich kann nie sagen, ich gehe in meine Hauptstadt, es gibt keine klare nationale Identität. Identität bedeutet hier, dass es keine gibt – aber alle sind aus Brüssel.

Autor Stefan Hertmans
Autor Stefan Hertmans

© Michiel Hendryck

Werden nationalistische Gruppierungen wie der Vlaams Belang nun noch stärker werden?

Das glaube ich nicht. Der Separatismus der Generation der heute 40- bis 50-Jährigen wird allmählich verschwinden, die Jungen denken wieder pro-belgischer. Es kommen viele Flamen zum Beispiel gerade nach Brüssel, weil es so international, so multikulturell ist. Es gibt eine wachsende Differenz zwischen den Flamen in der Provinz und denen in Brüssel. Separatismus ergibt keinen Sinn: nicht wirtschaftlich, nicht kulturell. Man kann Belgien nicht spalten, weil man Brüssel nicht spalten kann, denn es vergegenwärtigt viele Ethnien, Gruppierungen und Viertel, und es geht trotzdem gut.

Wie gehen die muslimischen Gemeinden mit dem Terror um, mit dem Verdacht, dem sie jetzt aktuell ausgesetzt sind?

Es gibt gerade eine gegenläufige Entwicklung. Wir diskutieren über die Integration, über die Maghrebiner, deren Hass auf unsere Institutionen. Das Ganze war jetzt ein Weckruf, keine Frage. Manche Leuten fragen, ob die Schengen-Zone, die Genfer Konvention, der freie Verkehr von Menschen und Gütern noch zulässig sind. Doch viele tausende Muslime haben in Frankreich und Italien gerade gegen den Salafismus demonstriert. Der europäische Islam beginnt sich zu organisieren, zu Wort zu melden. Meine Angst ist, dass die Muslime nicht genug Zeit für ihre Emanzipation bekommen, gerade im Verhältnis zu der retrograden Entwicklung auf unserer Seite, dem Sicherheitsbedürfnis, möglichen Terrorgesetzen, neuen Überwachungsmaßnahmen etc.

Wird sich Brüssel verändern nach den Terroranschlägen in Paris?

Der Bauer pflügt immer weiter. Das Alltägliche, das Rationale gewinnt. Es gibt Katastrophen, aber die Menschen müssen weiterleben. Und man kann nicht nur überleben, man muss auch leben. Die Belgier sind pragmatisch – ein Belgier ist kein Citoyen wie der Franzose. Wir sind nur halbe Bürger, wir haben Distanz zum offiziellen Belgien, eine groteske, ironische Distanz, die gut ist für eine Demokratie, die wachhält. Aber es ist trotzdem unser Leben, das wir wie bisher führen wollen, das wir uns von den Salafisten und Terroristen nicht kaputt machen lassen wollen.

Das Gespräch führte Gerrit Bartels.

Der flämische Lyriker und Schriftsteller Stefan Hertmans wurde 1951 in Gent geboren und lebt in Brüssel. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt der Roman „Der Himmel meines Großvaters“ (Hanser Berlin). Hertmans ist gerade Gastautor am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der FU Berlin, zusammen mit Terézia Mora. Am heutigen Mittwoch, den 25.11., diskutieren sie im Literaturhaus (20 Uhr) zum Thema „Was und wie spricht Europa?“.

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