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Du sollst dir ein Bildnis machen. Die Installation „Reformation“ von Philipp von Matt, eine riesige Spiegelfläche mit Christusfigur, ist noch bis zum 12. November im Berliner Dom zu sehen.

© Uwe Gaasch/promo

Bilanz des Reformationsjubiläums: Anbetung der großen Zahl

Das Gedenkjahr „500 Jahre Reformation“ ist eine kirchliche und kulturelle Leistungsschau der Superlative. Doch aus der Faszination für die Geschichte springt kaum ein Funke in die Gegenwart über. Eine erste Bilanz.

So könnte es gewesen sein vor 500 Jahren, als die Reformation in Wittenberg ihren Anfang nahm: In den Gassen drängten sich Menschen und Tiere, im Morgengrauen hörte man die Hähne krähen und in einer Ecke saß Johann Tetzel und verkaufte Ablassbriefe. So inszeniert Yadegar Asisi das Geschehen in seinem 360-Grad-Panorama und zog damit seit April 400 000 Besucher an – so viele wie keine andere Veranstaltung des Reformationsjubiläums.

Am 31. Oktober 2017 wird es exakt 500 Jahre her sein, dass Martin Luther seine 95 Thesen veröffentlicht hat. An diesem Tag findet der gigantische Jubiläumsreigen mit einem Festgottesdienst und Staatsakt in Wittenberg seinen Höhepunkt und Abschluss. „Endlich“, seufzen viele Beteiligte und lehnen sich erschöpft zurück.

Das Reformationsjubiläum war eine kirchliche, staatliche und kulturelle Leistungsschau, die es so wohl nicht mehr geben wird. Über 280 Millionen Euro haben die evangelischen Kirchen, Bund und Länder investiert, zehn Jahre lang wurde mit einer „Reformationsdekade“ auf 2017 hingearbeitet, die „Reformationsbotschafterin“ Margot Käßmann tourte fünf Jahre durch die Welt, um dafür zu werben. Die Internetseite „luther2017.de“ versammelt die zentralen kirchlichen und staatlichen Aktivitäten und listet allein für 2017 88 Ausstellungen, 62 Musikprojekte, 26 Tagungen, 48 Projekte kultureller Bildung, 24 Theaterstücke und 19 Bauvorhaben auf. Hat sich der Jubiläumsmarathon gelohnt? Was waren die Tops, was die Flops? Zeit für eine kleine Bilanz.

Die authentischen Orte ziehen die Menschen an

Zu den Gewinnern gehören die historischen Stätten der Reformation. Hunderttausende Touristen aus dem In- und Ausland begutachteten in der Wittenberger Stadtkirche Luthers Predigtkanzel und strichen im Lutherhaus über den Tisch, an dem er Reden geschwungen hat. Sie sahen sich auf der Wartburg um, wo er die Bibel übersetzte, und lernten in seinem Elternhaus in Mansfeld, dass er aus gut situierten Verhältnissen stammte. Die Orte wurden aufwendig restauriert und werden Besuchern auch dann noch einen Zugang zu Luther und seinem Wirken ermöglichen, wenn der Jubiläumsrausch vorbei ist.

Doch aus der Faszination für die Geschichte ist kein Funke für die Gegenwart übergesprungen. Die Hoffnung von Bischöfen und Kirchenräten, die Menschen über das Jubiläum für die aktuellen Botschaften der Kirche begeistern zu können, erfüllte sich kaum. Zumindest nicht über den kirchlichen Raum hinaus. Vor allem die großangelegte, 25 Millionen Euro teure „Weltausstellung Reformation“ in den Wittenberger Wallanlagen blieb hinter den Erwartungen zurück. Vier Monate lang führte die Schau vor, was es heute bedeutet, evangelisch zu sein. Am Ende zählte der Trägerverein 294 000 Eintritte. Gerechnet hatte man mit einer halben Million.

Auch bei den ostdeutschen „Kirchentagen auf dem Weg“ blieben Säle leer, und beim Abschlussgottesdienst des großen Kirchentags Ende Mai führten die Fernsehbilder vor Augen, dass sich auf den Elbwiesen keine 120 000 Gläubige versammelt hatten, wie es die Kirche etwas zu großspurig angekündigt hatte. Danach feilschten die Verantwortlichen mit den Journalisten um die Zahlen, was zeigte, wie groß der Druck war, Erfolge vorzuweisen, und wie sehr man Opfer der eigenen Theologie der großen Zahl geworden ist.

Theologen sprechen von "Selbsttäuschung"

Der ostdeutsche Theologe Friedrich Schorlemmer und der langjährige Leipziger Thomaskirchen-Pfarrer Christian Wolff warfen ihrer Kirche kürzlich vor, das Jubiläumsjahr sei eine „grandiose Selbsttäuschung“ gewesen. Man habe versäumt, die „Krise der Kirche in der säkularen Gesellschaft offen anzusprechen“ und neue Visionen zu entwickeln. Der Bedeutungsverlust der Kirchen schreite mit wachsender Intensität voran. Die Reformationsdekade hat tatsächlich höchstens einen Stupser, aber keinen Ruck durch die Kirche gehen lassen. Die Faszination für den historischen Luther hat die Zahl der Taufen nicht erhöht, und die Säkularisierung wird auch 2018 fortschreiten, da haben Schorlemmer und Wolff recht.

Reformator in Bronze. Das Martin-Luther-Denkmal auf dem Marktplatz in Wittenberg.
Reformator in Bronze. Das Martin-Luther-Denkmal auf dem Marktplatz in Wittenberg.

© Jens Wolf/dpa-Zentralbild/dpa

Und doch waren die zehn Jahre, war die „Reformationsdekade“ nicht vergebens. Die vielen hundert Bücher, Aufsätze und Forschungsvorhaben, die das Jubiläum angestoßen hat, die vielen Vorträge und Diskussionen in Kirchengemeinden und Akademien waren ein gigantisches Fortbildungsprogramm für viele Kirchenmitglieder und ihre Pfarrer und haben zu einer neuen Selbstgewissheit geführt. Das ist nicht wenig in einer Zeit, in der das Glaubenswissen rasant abnimmt. Selbst in Rom sollen die Priester zwischen den Beichten im Petersdom Luther gelesen haben. Und jeder reformfreudige Islamwissenschaftler beruft sich neuerdings auf den Wittenberger Mönch.

Die Protestanten könnten aus dem Reformationsjubiläum lernen, dass es sich lohnt, mit nichtkirchlichen Partnern zusammenzuarbeiten und etwas zu wagen. Denn die Veranstaltungen, die sie zusammen mit anderen organisierten, zogen deutlich mehr Besucher an. So schauten sich zum Beispiel weit über 30 000 Menschen die zeitgenössische Kunst „Luther und die Avantgarde“ im alten Wittenberger Gefängnis an. Auch die provokanten „Sündenbock“-Bilder von Gilbert & George in St. Matthäus in Berlin zogen zahlreiche Kunstliebhaber an. Momentan ruft eine gigantische Spiegelwand im Berliner Dom viel Begeisterung, aber auch Stirnrunzeln und Ablehnung hervor.

Den Bereich des Gewohnten zu verlassen ist ein Wagnis

Den Bereich des Gewohnten zu verlassen und sich auf andere einzulassen ist immer ein Wagnis und setzt ein feines Gespür für die unterschiedlichen Rollen und Identitäten bei den Partnern voraus. Das gilt für die Zusammenarbeit mit säkularen Künstlern ebenso wie für die Kooperation mit dem Staat und den Austausch mit anderen Religionen. Wo das Gespür vorhanden ist und keine Seite die andere vereinnahmen will, kann die Verunsicherung sehr produktiv sein und zu einer neuen Konzentration aufs Wesentliche führen.

Wenn die evangelische Kirche in einer zerklüfteten Gesellschaft Volkskirche bleiben will, wird ihr gar nichts anderes übrig bleiben, als sich weiter zu öffnen und vielfältig zu bleiben. Die eine große Meistererzählung gibt es sowieso nicht mehr, auch das hat das Reformationsjubiläum gezeigt. Die gewachsene Selbstgewissheit und die Netzwerke, die für das Jubiläum geknüpft wurden, können dabei helfen. Nun braucht es noch die Fähigkeit zu echten Debatten und den Mut, auch mal Dissens auszuhalten.

Um dafür neuen Schwung zu holen und der Welt die Chance zu geben, sich von der Überdosis Luther zu erholen, sollte sich die Kirche aber vielleicht erst mal ein kollektives Sabbatjahr verordnen. Der Hannoveraner Landesbischof Ralf Meister hat in diese Richtung vorausgedacht. Er sprach 2016 davon, dass sich die Kirche nach dem Reformationsjubiläum ein „Jahr des Auftankens“ gönnen sollte. Es gehe darum, „Freiräume zu schaffen für geistliche Konzentration und das Nachdenken über unser Leben als Kirche in gedrängten Zeiten“. Auf landeskirchliche Großveranstaltungen sollte verzichtet werden, wünschte sich Meister – vermutlich ist er mit dem Wunsch nicht alleine.

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