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Familien-Bande. Szene aus Ahmed El Attars Satire "The Last Supper".

© Mostafa Abdel Aty

Berliner Schaubühne: das FIND-Theaterfestival: Poesie und Politik

Theater der Welt in Berlin: Das Festival Internationale Neue Dramatik FIND an der Schaubühne versammelt Gastspiele von Serbien bis Syrien.

Wie oft hat man schon im Theater gesessen und gegrübelt: was zur Hölle will der Regisseur uns damit sagen? Oder: was hat dieses Getändel des 19. Jahrhunderts bitteschön mit heute zu tun? Lauter Sinnfragen, die bei der irischen Gruppe Dead Centre garantiert nicht aufkommen. Zu Beginn ihres Gastspiels mit „Chekhov’s First Play“ an der Schaubühne tritt erst mal der Regisseur vor den roten Vorhang und erklärt sich wortreich. Leider sei seine Intention zuletzt oft nicht verstanden worden.

Und er selbst sei auch eher der Typ, der den Beipackzettel zum Kunstgenuss brauche und im Museum mehr Zeit vor den Erläuterungstäfelchen als vor den Bildern verbringe. Also habe er sich für einen „Director’s commentary“ entschieden, einen Live-Audiokommentar während der Vorstellung. Damit bloß keine Missverständnisse aufkommen, weshalb man sich hier Tschechows ausuferndem Erstlingswerk „Platonov“ widmet. Also bitte die bereitliegenden Kopfhörer aufsetzen.

Die Idee, das berüchtigte DVD-Bonus- Format des Regie-Kommentars aufs Theater anzuwenden, ist schon mal sehr smart. Und sie löst sich bei Dead Centre so ironisch wie mehrfach sinnfällig ein. Während im Kostüm der Epoche und vor bravmuffiger Landhauskulisse das Ensemble ins Spiel um die Generalin Anna Petrovna und die restliche russische Provinzbelegschaft im Stande des Ennui anhebt, schaltet sich der Regisseur immer wieder als hadernder Demiurg ein.

Fabuliert über das Motiv von Eigentum und Besitz bei Tschechow. Über Platonov (der hier lange gar nicht auftritt) als Prototyp des „überflüssigen Menschen“. Und schraubt sich zunehmend in die verzweifelte Kritik bei laufendem Betrieb. Die Dilettanten haben drei Seiten übersprungen! Die Schauspielerin mit dem dicken Bauch ist wirklich schwanger und kommt damit nicht klar. Der Glagoljew-Darsteller, der sein Geld als Sprecher für Banken-Werbung verdient, versucht sich wieder den billigsten Lacher abzuholen. Man könnte sich wirklich die Kugel geben. Ganz wahrhaftig.

Regisseur Milo Rau erhält einen den ITI-Preis

„Chekhov’s First Play“, inszeniert vom Regie-Duo Bush Moukarzel und Ben Kidd, lief am Eröffnungswochenende des diesjährigen Festivals Internationale Neue Dramatik (FIND) an der Schaubühne. Beim FIND sind ja selbst in maueren Programmjahren verlässlich gute Künstler und Kollektive zu entdecken, in den vergangenen Jahren zum Beispiel der Amerikaner Richard Nelson, die chilenische Gruppe La Re-sentida, das griechische Kollektiv Blitz, noch früher Rodrigo Garcia. Von Dead Centre möchte man jedenfalls unbedingt mehr sehen. Wozu es auch Gelegenheit gibt, die Iren gastieren noch mit ihrer älteren Performance „LIPPY“, die von der Aufklärung eines rätselhaften Suizids durch einen Lippenleser erzählt.

Das FIND spannt diesmal einen Bogen über Ägypten, Belgien, Deutschland, Haifa, Iran, Italien, Schweden, Serbien und Syrien. Unter anderem. Ein Schwerpunkt ist dazu Milo Rau gewidmet, dessen Inszenierung „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ die Schaubühne im Repertoire hat. Zudem gastiert sein Münchner Projekt „The Dark Ages“, das europäische Nachtgeschichte in den Blick nimmt, mit besonderem Fokus auf die jüngere Gewalthistorie des Balkans. Dazu wird Rau zum Welttheatertag 2016 am heutigen Sonntag vom Deutschen Zentrum des Internationalen Theaterinstituts (ITI) ein Preis verliehen. Auch wenn die Qualität seiner Arbeiten zuletzt schwankte – die Recherche-Unternehmungen von Rau und seinem „International Institute of Political Murder“ zählen insgesamt zur Qualitätsspitze des politisch-dokumentarischen Gegenwartstheaters.

Ein Fokus liegt auf den Verwerfungen in Nahost und dem Thema Flucht

Familien-Bande. Szene aus Ahmed El Attars Satire "The Last Supper".
Familien-Bande. Szene aus Ahmed El Attars Satire "The Last Supper".

© Mostafa Abdel Aty

Einen politischen Anspruch hat auch das FIND. Es wird zum Beispiel der notorische Romeo Castellucci mit seiner Installation „Natura e origine della mente“ zu sehen sein. Laut Ankündigung hängt da eine sehr leidensbereite Frau an einem Stahlseil meterhoch über dem Boden, nur am Zeigefinger, während unter ihr ein miauender Hund herumläuft. Was als Verhandlung von Spinozas Ethik gedacht ist. Wow. Beziehungsweise: Wuff! Die serbisch-belgische Koproduktion „Do You Still Love Me?“ verhandelt dagegen in der Regie von Sanja Mitrovik mit echten Brüsseler Fußballfans Fragen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Während der Schwede Marcus Lindeen in „Wild Minds“ obsessiven Tagträumen nachspürt.

Zudem liegt ein Fokus auf den Verwerfungen in Nahost und dem Thema Flucht. Über seine eigenen Erfahrungen mit Verfolgung und Folter als Gegner des Assad-Regimes hat der syrische Dramatiker Anis Hamdoun das Stück „The Trip“ geschrieben. Ein von brutalen Phantomschmerzen durchpulster Abgesang auf Homs, die vormalige Stadt der Sonne, heute der Schwärze, ist „The Trip“. Eine Reflektion darüber, was es bedeutet, entwurzelt zu sein und von den Stimmen der Toten verfolgt zu werden. Ein bisschen schade nur, dass Hamdouns eigene Inszenierung – entstanden am Theater Osnabrück – die Unmittelbarkeit der Horrorerlebnisse durch betroffenheitsbleiernes Stadttheaterspiel einbüßt.

Eine Satire über die dekadente Oberschicht von Kairo

Sehr viel lebendiger und schärfer ist die ägyptische Produktion „The Last Supper“ geraten, geschrieben und inszeniert von Ahmed El Attar. Die wirft ein grelles Licht auf die Kairoer Oberschicht, die sich hier gespiegelt in einer schwerreichen Familie an der langen Plexiglastafel versammelt. Während das überwiegend äthiopische Personal wie Dreck behandelt wird, hakt die durch und durch dekadente Hautevolee vor Kuhkopf und anderen Unappetitlichkeiten auf dem Silbertablett die Nachwehen der Arabellion in zwei Sätzen ab. Viel lieber befasst man sich ausgiebig mit Selfies auf Instagram, den Vorzügen Londons als Shoppingstadt, globalen Businessplänen und Verschwörungstheorien („Amerika, Iran und Schweden wollen Ägypten zu Fall bringen!“) sowie Relevanzleichen im Nachrichtenfluss à la: „In China wurde ein tibetanischer Mastiff für zwei Millionen verkauft“. Man könnte das für absurde Überzeichnung halten. Aber wie das ägyptische Ensemble erzählt, ist ihre Satire sehr viel lebensnäher, als man hierzulande denken möchte.

Apropos Lebensnähe. In der zweiten Hälfte von „Chekhov’s First play“ (der Regisseur hat sich bereits erschossen) kracht eine enorme Abrissbirne ins Bühnenbild, und das Spiel kippt. Ein stummer Platonov tritt auf, auf den nicht nur die Tschechow-Figuren, sondern auch die Performer all ihre Sehnsüchte, Befindlichkeiten und Schuldenlasten werfen. Alles in Tschechows Geiste. Ach ja, der gute alte Grenzfall zwischen Kunst und wahrem Leben, wie oft hat er schon für gedankenschlichte Hirnwut herhalten müssen. Hier befeuert er ein Stück großartiges Gegenwartstheater.

Bis 17.4. an der Schaubühne; Verleihung des ITI-Preises an Milo Rau: 10.4., 15 Uhr

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