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Und ob er kann! Simon Rattle dirigiert das Eröffnungskonzert.

© Monika Rittershaus

Berliner Philharmoniker: Nach Sehnsucht sehnen

Die Berliner Philharmoniker eröffnen die Saison mit Gustav Mahlers siebter Symphonie.

Der Sprechfunk der Sicherheitsleute zirpt durch Pierre Boulez’ „Éclat“ für 15 Instrumente hindurch, obwohl weder die Kanzlerin noch der Bundespräsident gekommen sind zum Saisoneröffnungskonzert der Berliner Philharmoniker. Merkel ringt im Osten Europas um Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen, Fotos mit dem Vorstandschef des krisengeschüttelten Orchester-Sponsors Deutsche Bank helfen ihr dabei nicht weiter. Die Erinnerung an den großen Pierre Boulez, zehn vorangestellte Minuten, erweist sich als beinahe zu zart, um dem weltweit im Internet und in Kinos übertragenen Saisonauftakt Struktur zu geben. Ist es doch vor allem der Nachhall, der dieses frühe Werk von 1965 noch immer aufregend machen kann.

Er währt aber nur kurz, im Auditorium wie auf dem Podium, dann drängt die Masse des urlaubsgebräunten Orchesters nach. Mahlers Siebte liegt auf den Pulten, ein gewaltiges, heikles Werk. Schwer zu fassen aus identifikatorischer Sicht, nicht heldisch, sondern durchweg doppelbödig angelegt. Wer sich in die mächtigen Außensätze oder die spukhaften Nachtmusiken dazwischen wagt, muss unbedingt wissen, was er tut. Rattle weiß es, auch wenn es im Orchester nach all den gemeinsamen Jahren noch immer Gruppen gibt, in denen man sich hinter kaum vorgehaltener Hand bei Proben signalisiert: Dieser Mann kann nicht dirigieren. Und ob er kann! Rattle streift dafür jedoch gänzlich den Optimismus ab, mit dem er einst in Berlin angetreten ist, auch damals mit Mahler. Zu Beginn der letzten exklusiven Spielzeit – in der nächsten Saison wird Rattle sich parallel um sein neues Orchester in London kümmern – präsentieren sich die Philharmoniker und ihr Chef in einer gereiften Arbeitsbeziehung.

Radikal moderne Sicht

Alles Liebliche, Schmeichelnde scheint da plötzlich unnötig geworden zu sein. Das ermöglicht Rattle eine radikal moderne Sicht auf Mahler, dessen 7. Symphonie etwa Claudio Abbado noch ganz als melodiensatten Jugendstil interpretierte. Wie stark die vertikalen Verschränkungen hier völlig neue Hörwege eröffnen, kann man an diesem Eröffnungsabend erleben, mit wunderbaren Soli von Christhard Gössling am Tenorhorn und wunderkräftig beiläufigen Einwürfen von Andreas Ottensamers Klarinette und Emmanuel Pahuds Flöte. Doch das „Sehnen über die Dinge der Welt hinaus“, das Musik nach Mahlers Meinung unbedingt enthalten muss, dieses Sehnen will sich partout nicht einstellen.

Vielleicht findet gerade deshalb Intendant Martin Hoffmann beim anschließenden Empfang besonders leidenschaftliche Worte: Privilegierten Musikgenuss will er als Ansporn für noch mehr echtes bürgerschaftliches Engagement verstanden wissen. Den Populisten und Vereinfachern dürfe man keinesfalls das Feld überlassen. Auch die Tourneeplanung seines Orchesters liest Hoffmann in diesem Sinne: Am Tag der Präsidentenwahl spielen die Philharmoniker in New York – um der ersten Präsidentin der USA gratulieren zu können.

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