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Peter Pan (Sabin Tambrea, M.) wird begeistert empfangen von Wendy (Anna Graenzer).

© Eventpress Hoensch

Berliner Ensemble: Wie man sich bettet, so fliegt man

Eine feine Nachtmusik: Robert Wilson und CocoRosie verzaubern mit ihrem „Peter Pan“ das Berliner Ensemble.

Sterblichkeit ist ein gefräßiges Krokodil. Nein, es verhält sich komplizierter. Das Krokodil ist ein Feinschmecker, es liebt Piratenfleisch, und es hat einen Wecker verschluckt, der laut tickt. Deswegen kann der Pirat entkommen, er ist gewarnt. Aber die Uhr tickt nicht ewig, und das Krokodil ist nicht in der Lage und hat auch keine Veranlassung, sie wieder aufzuziehen. Das ist der Haken an der Sache: Eines Tages wird das Monster, das mit roten Augen auf der Bühne herumstolziert und eigentlich recht nett aussieht, den bösen und gemeingefährlichen Käpt’n der Piraten verschlingen. Denn es weiß – unter der harten Schale liegt ein butterweicher Kern, ein unerlöstes Kind.

Die Geschichte ist durch viele Hände gegangen. Es gab Spielfilme und Animationsfilme und Musicals und Fernsehshows mit dem fliegenden Jungen, der nicht älter werden will – und oft von einer gar nicht mehr so jungen Frau gespielt wurde. „Peter Pan“ ergeht es wie einem antiken Mythos. Immer wieder bekommt die Figur neue Kleider, neue Songs, mit und ohne Krokodil. Und bleibt doch das alte Lied: Wie hältst du’s mit der Kindheit?

Hier kommt das Original. Das Berliner Ensemble spielt den Text von James Matthew Barrie, der schon bei der Uraufführung 1904 einen fulminanten Erfolg feierte. Zu der Zeit schrieb in den USA ein gewisser L. Frank Baum seinen „Wizard of Oz“. Es muss eine Epoche der großen Fluchten gewesen sein. Viel Autobiografisches, Unerfülltes steckt in der Story von „Peter Pan“. Und hier kommt Robert Wilson. Er bringt aus New York den frischen Sound von CocoRosie mit und stellt ein Stück auf die Bühne, das sich nur als original Wilson beschreiben lässt, mit all seinem Slapstick und Surrealismus, seiner Lichtkunst und den typischen schrillen Soundeffekten. Auch bei ihm berührt die Pan-Geschichte tieferen Grund.

Aber der 71–jährige Regisseur ist nicht einfach Peter Pan und auch nicht Hook. Eher schon die große Echse – oder alle drei auf einmal. Er gehört zu den Dinosauriern des großen Welttheaters, was hat er nicht alles verarbeitet! Wilsons Werke atmen seit Jahrzehnten diesen pan-amerikanischen Geist, dabei hat er ein Pantheon der europäischen Avantgarde errichtet. Es gibt in seinem ritualisierten Kosmos stets ein Hier und ein Dort – und zwischen den Sphären eine unsichtbare Membran. Der Träumer und das Geträumte. Die helle Nacht und der dunkle Tag. Das Romantische und das Industrielle: Max Reinhardt sagte, der Schauspieler solle sich die Kindheit in die Tasche stecken. Robert Wilson hat sie im Blut. Adoleszenz ist für ihn der Dauerzustand, in dem ein Stück, eine Figur, eine Inszenierung wächst.

„Die Lichter sind die Augen, die die Mutter, wenn sie fortgeht, daheim lässt, damit sie die Kinder beschützen“, sagt Frau Darling, als sie ihre drei süßen Kleinen zu Bett bringt. Das ist Barries Welt (in der Übersetzung von Erich Kästner), und Wilson reißt die Tür weit auf ins Unbekannte. An langen Strippen hängen Glühbirnen herab. Das Zimmer ist mit Schiffsmuster tapeziert (Piraten!), das Bett hat drei Schafsköpfe als Kissen (Schlaf und Angst), und das Fenster ist ein leerer Bilderrahmen, in Erwartung dessen, der da kommen soll. Eine grandiose Eröffnung. Kindheit als Weg in den Garten Eden, im Lichte der Erfindung des Thomas Alva Edison.

Eine Märchenerzählung wird entrollt, so grausam, so dunkel, so unterhaltsam. Kaum dass die Eltern das Haus verlassen, fliegen die Kinder davon. Sie haben Peter Pan und Tinkerbell, die Fee, magisch angezogen. Pan aber, das ist vom ersten Moment an fein gezeichnet, erscheint als schwankender Verführer, seiner selbst nicht sicher, ein androgynes Wesen, das sich ausprobiert, gestisch und sprachlich. Er kann alles und weiß nicht so viel. Sabin Tambrea sieht aus wie eine Mischung aus Mesut Özil und dem David Bowie der Glitzerjahre. Er hat etwas Linkisches, das macht seinen Charme aus. Er leidet an der Mutter, die er nie hatte.

Auch die Fee ist mit einem Mann besetzt, Christopher Nell. Hinreißend, wie Tinkerbell in hellstem Lampenfieber ihre Auftritte verzappelt. Er, sie, es gäbe einen schönen Puck im „Sommernachtstraum“ab. Von daher weht der Wind: aus einer Shakespeare-Fantasie, die auf ein Brecht-Cabaret und Grotesk-Musical trifft, für das Max Ernst das Szenenbild entworfen haben könnte. Ist nicht auch Anna Graenzers auf Clown geschminkte Wendy ein Luftgeist, wie sie springt und singt, scharf und zart zugleich?

Der zweieinhalbstündige Abend im BE wird zum bejubelten Triumph, weil die Band im Graben hellwach aufspielt, weil alle hervorragend intonieren – herzzerreißend wie die Mutter, Traute Hoess, die den Verlust der Kinder beklagt, komisch-tragisch wie Tinkerbell, die sich nach Peter Pan verzehrt.

Er kennt sich selbst nicht. Aber alle lieben ihn. Besonders Käpt’n Hook. Es ist die schärfste, riskanteste Szene des Stücks, die berührendste. Hook hat Pan endlich gefangen. Sein Wunsch erfüllt sich, ein Albtraum: „Was stell ich mit ihm an? Mein ewiger Feind, mein einziger Freund ... Ich mache ihn zum Mann.“ Stefan Kurt hat schon viele Rollen bei Robert Wilson gespielt, seit dem legendären „Black Rider“ 1990. Mit struppigem Haar und tiefen Furchen im Gesicht könnte sein Oberpirat der gealterte Peter sein. Er geht vor dem Jungen ihn die Knie, streichelt ihn um den Schritt, greift nach der Flöte, entblößt seinen Armstumpf. Hook wird zu Käpt’n Spuck und will Peter einen Trank kredenzen. Männerliebe! Heißes Begehren! Verschmelzung von Freund und Feind. Was die zischende Tinkerbell im letzten Moment verhindert. Hook gibt auf. Das Krokodil wartet. Die Uhr ist abgelaufen. Große Oper: wie Hook sich in das viel zu kleine Maul der Echse wirft. Armer Teufel! Ihm gelingt wirklich nichts.

Sind das nicht alles verlorene Seelen, da die Geschichte zu Ende erzählt ist und sie singen: „Der Tod wär wohl das größte Abenteuer“? Und was ist mit Neverland, wo die Zeit stillsteht? Robert Wilson hat den Eingang wiedergefunden, nach einigen flauen Versuchen. Er hat seinen Zauber wieder, seinen Witz, die leichte Schwere. Auch wenn er Altersmilde zeigt. Die beiden Musikerinnen von CocoRosie helfen sehr. Sie komponieren feine Nachtmusik, swingend, einschmeichelnd, raffiniert. Klingt nach Kurt Weill oder Tom Waits, nur verspielter, weicher.

Neverland ist keine Ranch, sondern ein Reich für eine kurze Zeit. Es nennt sich auch Theater. Aber nur, wenn es gut geht.

Wieder am 19. und 21., 22. April sowie am 11. und 12. Mai.

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