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Frauenraub, Hatz, Rache. „Searchers“ ist ein karges, brachiales Inuit-Drama.

© Kingulliit Productions Inc

Berlinale 2017: Native: Schnee, so weit das Auge reicht

Der größte Held des arktischen Kinos ist die Arktis selbst. Ein Blick in die Native-Reihe, mit Filmen aus Grönland, dem kanadischen Nunavut-Territorium, Alaska, Sibirien und Lappland.

Als die Jäger durch die Wand des Iglus brechen und die im Schein einer Tranlampe schlafende Familie überfallen, ist Kuanana mit seinem älteren Sohn unterwegs, draußen auf dem Packeis. Auch er ist ein Jäger. Eine Flinte hat er, und in einem Sack wühlt er nach den letzten Patronen. Der Mann und der Junge schaffen es in dieser Nacht nicht mehr zu dem Iglu zurück, in dem die vier Fremden erst Kuananas Eltern erschlagen, seinen Jüngsten im Schnee erfrieren lassen und Frau und Tochter rauben.

Als er eintrifft, brüllt er fassungslos. Er steht in der Leere einer weißen Unendlichkeit und weiß nicht, wohin er sich wenden soll. Die Landschaft selbst sagt es ihm nicht. Die Mörder könnten jede Himmelsrichtung eingeschlagen haben in dieser formlosen Eiswüste, ihre Schlittenspuren sind verweht. Was tun?

„Maliglutit“ ist die Inuit-Antwort auf John Fords „The Searchers“. Zacharias Kunuks Film aber ein Remake des Western-Klassikers zu nennen, ginge zu weit – obwohl er denselben Titel trägt und wie dieser von einer unbarmherzigen Jagd durch die Wildnis erzählt. Doch bleibt von dem Stoff in der frostigen Natur nicht mehr übrig als das Gerippe: der Frauenraub, die Hatz, die Rache.

Wie sich Jegliches reduziert im Eis. In der Kälte zieht sich das Leben zurück. Für Filme aus der Region heißt das: verwehte Flächen, leere, eisige Horizonte, einfache Verrichtungen wie das Häuten einer Robbe, eine Mahlzeit, die aus nichts als einem gefrorenen Fisch besteht, mit dem Hammer zertrümmert wird und auftaut beim Kauen im Mund. Ein realistischer Minimalismus. Weiße Landschaften auf weißer Leinwand.

So viel Schnee geht nur auf der Berlinale

In Cannes oder Venedig würde so etwas nicht gehen. Der Temperaturunterschied wäre zu groß bei diesen mediterranen Sommerfestivals. Aber die Berlinale ist anders: das härteste Festival der Welt. Dass die Native-Reihe sich diesmal ganz der arktischen Polarregion verschrieben hat, beweist das nur. 20 Filme aus Grönland, dem kanadischen Nunavut-Territorium, Alaska, Sibirien und Lappland werden gezeigt. Durchschnittstemperatur: minus 30 Grad. Überwiegend handelt es sich um Dokumentationen, aber auch einige aufwendig produzierte Spielfilme sind darunter.

„Searchers“ von Zacharias Kunuk ist der eindrucksvollste. Der Regisseur, der mit „Atarnarjuat“ 2001 einen internationalen Erfolg hatte, ist ein versierter Erzähler karger, brachialer Inuit-Dramen. Dass ein Film so spannend sein kann, der aus nicht viel mehr als durch Schnee laufenden und ihre Schlittenhunde antreibenden Inuit besteht. Aber Reduktion ist ein maßgebliches Element des indigenen Kinos. Es passiert nie viel, doch das Wenige trägt den Zorn von Menschen in sich, die nicht nur am Rand leben, sondern sich auch an den Rand gedrängt fühlen.

Für den 59-jährigen Kunuk, der in Nunavut als viertes von zwölf Kindern geboren wurde, ist die Filmkamera ein Instrument der Gerechtigkeit. Gut und Böse haben in "Searchers" ihren angestammten Platz. Sein Volk wird schon ungerecht genug behandelt, meistens durch Nichtbeachtung, als dass der Filmemacher auch noch auf unfaire, zynische Wendungen in seinem Revenge-Movie zurückgreifen müsste. Billige Effekte können sich Menschen leisten, die in gerechten Systemen leben. Wie jene Naturschützer in „Angry Inuk“, die vor dem Plenarsaal des Europaparlaments weiße Plüschtierchen verteilen, um für ein Einfuhrverbot von Robbenfellen zu werben.

Szene aus "Angry Inuk" der Aktivistin und Filmemacherin Arnaquq-Baril
Szene aus "Angry Inuk" der Aktivistin und Filmemacherin Arnaquq-Baril

© National Film Board of Canada

Flauschige Babyrobben aus Kunstfell haben einen verheerenden Effekt auf die wirtschaftliche Grundlage der nordkanadischen Inuit. Seit den 70er Jahren dauert die Kampagne gegen die Robbenjagd an. Brigitte Bardot und andere Prominente attackieren sie als barbarischen Akt. Unter dem Druck der Aktivisten wurden weitreichende Einfuhrbeschränkungen erlassen, der Markt für Robbenfelle, der den Inuit einen bescheidenen Wohlstand ermöglichte, brach zusammen. Sie seien zu Außenseitern der Weltökonomie gemacht worden, mit der sie durch ihren Robbenfellhandel verbunden waren, meint Alethea Arnaquq-Baril.

Die Inuk-Aktivistin und Filmemacherin Arnaquq-Baril hat viel von Michael Moore gelernt. Ihr engagierter Dokumentarfilm ist ein schönes Beispiel dafür, wie Außenseiter sich der Mittel des Massenmediums Film bedienen, um Stigmata zu dekonstruieren, deren Opfer sie sind. In diesem Fall geht es um die Desinformationen der Naturschutzlobby, die mit Bildern niedlicher Robbenbabys Millionenbeiträge eintreibt, ohne dass diese Tierart auch nur annähernd in ihrer Existenz bedroht wäre. Ein Inuit-Student versteht diese Logik nicht. Wieso solle er sich rechtfertigen vor Leuten, die massenhaft Tiere quälen würden, bevor sie sie essen, und Kleidung trügen, die aus Erdöl gemacht werde und ökologisch nicht abbaubar sei.

Die allgemeine Schulpflicht hat das soziale Leben zerstört

Schließlich sind da allerorten die Letzten ihrer Art. Die Rentierhirten und Pferdezüchter („24 Snow“), die als Männer der Wildnis Stolz daraus entwickeln, auf sich allein gestellt zu sein. Aber sie leiden auch darunter, niemanden mehr zu finden, der ihren Reichtum schätzt und ihr Werk fortsetzen würde. In Tschukotka schwebt der Fortschritt in Form eines Hubschraubers vom Himmel.

Er kommt, um die Kinder aus der Tundra abzuholen und zur Schule zu bringen. Zehn Monate werden sie von ihren Eltern, die bei den Rentieren bleiben, getrennt sein. Und kaum eines der Kinder werde danach in die Wildnis zurückkehren, beklagt sich Vukvukai, Held in Aleksei Vakhrushevs „The Tundra Book“.

Mehr als alles andere hat die allgemeine Schulpflicht das soziale Leben am Rande des Packeises zerstört und die Sippen auseinandergerissen. Aber sie hat den Kindern auch den Umgang mit Filmkameras gelehrt. Und die kehren nun wie Zacharias Kunuk in die Einöde zurück, um das, was ihnen verloren ging, in Form von Bildern wiederzufinden.

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