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500 Jahre Tradition. Die Marienkantorei probt im Georgensaal in Mitte, dirigiert von Marie-Louise Schneider.

© Kai-Uwe Heinrich

Bachs Weihnachtsoratorium in Berlin: Herzen in die Höhe

Überall ertönt jetzt das Weihnachtsoratorium. Nirgends wird es so oft aufgeführt wie in Berlin – von sangesfrohen Laien. Besuch bei einer Chorprobe.

Langsam werden die beiden jungen Musiker mit den Trompetenkästen etwas nervös. Zwei Mal schon haben sie die Apostel-Paulus-Kirche an der Grunewaldstraße umrundet – auf der Suche nach einer unverschlossenen Tür, durch die sie zur Probe des Neuen Chors Alt-Schöneberg gelangen können. Der übt gerade Bachs Weihnachtsoratorium – und ohne Blechbläserglanz geht da bekanntlich nichts. Oder fast nichts: Als die Klingel gefunden ist und sich die Tür öffnet, ist der Chor just bei dem Choral „Ich steh’ an Deiner Krippen hier“ angelangt. Und ehe man noch die Gelegenheit hat, darüber nachzudenken, ob die Intonation stimmt, hat sich schon das schmerzlich-süße Gefühl auf den Brustkorb gelegt, das zu diesem Stück zu gehören scheint. „Sehr schön“, sagt Kantor Sebastian Brendel und lässt den Choral noch einmal wiederholen, damit niemand mehr in die Pausen zwischen den Phrasen singt.

Gelegenheiten, das Werk zu erleben, gibt es in Berlin reichlich: Mit rund 50 Aufführungen pro Saison hat wohl keine andere Stadt der Welt eine solch hohe Dichte an Darbietungen der 1734 entstandenen sechs Kantaten aufzuweisen. Schließlich war es auch Berlin, wo die Tradition jährlicher Laienaufführungen des Weihnachtsoratoriums entstand. Sie begann 1857 mit der ersten vollständigen Wiederaufführung des Werks durch Ernst Grell im Konzerthaus der Singakademie zu Berlin – dem Gebäude, in dem sich heute das Maxim-Gorki-Theater befindet und das seinerseits nur wenige Dutzend Meter von der Staatsbibliothek entfernt ist, wo Bachs sauber geschriebenes Autograf des Werks hinter dicken Tresorwänden ruht.

Erst nach der Berliner Wiederaufführung wanderte das Stück vom Konzertsaal teilweise in die Kirchen zurück. Zu Mauerzeiten profitierten Aufführungen im Westen von der starken Subventionierung der Chorlandschaft in der Inselstadt und der guten Versorgung der Kirchen mit A-Musiker-Stellen, während Aufführungen im Ostteil Berlins auch einen unantastbaren Freiraum inmitten der dominierenden Staatsideologie gewährten.

Demut und die Fähigkeit zum Staunen sind wichtig

Die Wende hat die Weihnachtsoratorien-Tradition unbeschadet überstanden. Das Stück bleibt Publikumsmagnet und bindet auch neue Chormitglieder, wie Sebastian Brendel weiß. Es ist sein erstes Weihnachtsoratorium als Dirigent. Sein Ziel ist es, in seiner Gemeinde eine eigene Tradition von Aufführungen zu etablieren. Und das nach Möglichkeit aus eigener Kraft: Nicht nur die Chorpartien kann Brendel mit Laien besetzen, sondern auch die Streicherpartien. Gute Vorbereitung, Demut und die Fähigkeit zum Staunen vorausgesetzt, eigne sich das Weihnachtsoratorium sehr wohl für Amateure, findet er: „Es ist nicht ohne Grund das populärste Kulturgut, das wir besitzen, nicht einmal im Theater gibt es etwas Vergleichbares“.

Souverän steuert Brendel das altersmäßig bunt gemischte Ensemble, das erwartungsvoll strahlend, mit den Fingern in den mit bunten Seitenreitern verzierten Chorpartituren, auf die Einsätze wartet, durch den letzten großen Chorsatz. Ab und an tritt er ein paar Schritte zurück, um den Gesamtklang zu überprüfen. Noten braucht er nicht: Brendel ist fast blind und dass er neben sämtlichen Stimmen auch die Taktzahlen im Kopf hat, ist das Resultat einer akribischen Vorbereitung, buchstäblich Note für Note am extrem vergrößernden heimischen Bildschirm.

Seit 500 Jahren werden in der Marienkirche Oratorien gesungen

Anders als Sebastian Brendel hat Marienkantorin Marie-Louise Schneider die Oratorien-Tradition in der alten Bischofskirche am Alexanderplatz von ihren Vorgängern geerbt. Dieses Erbe auch anzunehmen war allerdings keine Selbstverständlichkeit. Immerhin kann die Marienkantorei auf eine weit vor Bach zurückreichende, 500-jährige Tradition zurückblicken, und Schneider hat sich seit ihrem Amtsantritt 2006 energisch dafür eingesetzt, auch das lange vernachlässigte Repertoire von Komponisten aus Berlins historischer Mitte wiederzuentdecken. Geschichtsbewusstsein ist ihr aber auch bei Bach wichtig: Zum einen musiziert die Kantorei gemeinsam mit Profis auf historischen Instrumenten. Zum anderen führt man pro Jahr in der Adventszeit nur je zwei Kantaten des Oratoriums auf. Sie werden ergänzt durch eine Kantate, die in liturgischem Bezug zur Adventszeit steht, erläutert Schneider. Denn genaugenommen gehört das Weihnachtsoratorium nicht in die Vorweihnachtszeit.

So protestantisch streng sich das Konzept auch anhören mag und so deutlich sich die Marienkirche vom Dauerspielbetrieb abgrenzt, mit dem Christoph Hagel nur wenige hundert Meter weiter im Dom seine aufwendige szenische Version des Oratoriums aufführt – an Lebendigkeit lässt bereits die Probe nichts zu wünschen übrig. „Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen“, ruft Schneider ihrem Chor zu und zeigt den Sopranen, wie man sich lockert, um die Spitzentöne zu erreichen, mit denen Bach in seiner Adventskantate die „erhabnen Sterne“ malt.

Ein kurzes „Vergesst die falschen Töne – tanzt!“ genügt, um den Saal mit den eben noch alltagsmüde hereingeschneiten Damen und Herren in Schwingung zu versetzen: Der Eröffnungschor des Weihnachtsoratoriums liegt den Sängern fühlbar im Blut. Wie oft sie ihn schon gesungen haben? „Ach, irgendwann habe ich aufgehört zu zählen“, sagt Michael-Johannes Riemann. Seit seinem fünften Lebensjahr hat der Tenor fast jedes Jahr damit auf dem Podium gestanden. Routine kommt dennoch nicht auf, ist er sich mit seinen Chorkollegen einig – denn jede Übungsphase hält ein kleines Aha-Erlebnis bereit. Manchmal ist es ein musikalisches Detail, mal ist es aber auch eine kleine Erleuchtung, pflichtet ihm Sopran Anna Poeschel bei: „Wir kennen durch das Stück ja die ganze Weihnachtsgeschichte auswendig.“ Einmal habe der Evangelist bei den Worten „Die Klarheit des Herrn“ das Wort Klarheit nur etwas anders betont. „Und plötzlich habe ich verstanden, dass damit nicht nur Helligkeit gemeint ist.“

Paul-Gerhardt-Kirche Schöneberg, So. 14.12., 17 Uhr; St. Marienkirche Mitte, Sa. 20.12., 16 und 19.30 Uhr

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