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Begann seine Karriere bei der „Zeit“: Michael Naumann, 75.

© Mike Wolff

Autobiografie von Michael Naumann: „Ein zielstrebiges Leben habe ich nicht geführt"

„Glück gehabt“, die unterhaltsame, spannende und geistvolle Autobiografie des ehemaligen Verlegers und Kulturstaatsministers Michael Naumann.

Das hätte man nicht gedacht. In Michael Naumanns Lebenserinnerungen unter dem Titel „Glück gehabt“ steckt auf den Seiten 151 und 152 eine Sensation.

Wie das? Bieten Memoiren wohlbekannter Zeitgenossen heutzutage doch schwerlich überraschende Mitteilungen, geschweige: Enthüllungen. Eine Ausnahme war allenfalls das späte Eingeständnis von Günter Grass, am Ende des Weltkrieges noch Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Mit Grass’ Vita und Werk ist das bewegte Leben und Wirken von Michael Naumann, dem ehemaligen Journalisten, Verleger, Kulturstaatsminister, gewiss nicht vergleichbar.

Aber was Naumann kundtut, ist dennoch verblüffend. Wir sind im Jahr 1970/71. Nach seinem Studium der Politologie, Geschichte und Philosophie in Marburg, München und Oxford, nach einer Dissertation über Karl Kraus sowie einer Anfangsstation beim „Münchner Merkur“ war Naumann mit knapp dreißig in die Redaktion der Hamburger „Zeit“ eingetreten. Dort gehörte er zum Gründungsteam des neu entstehenden „Zeit-Magazins“. Mit ihm erhoffte sich der damalige Verleger Gerd Bucerius mehr Anzeigen und Geld für das zu jener Zeit kriselnde Mutterblatt. Freilich wurde der Etat zunächst kleingehalten und redaktionell häufig improvisiert.

Naumann: „Reportagen des ZEIT-Magazins fanden nicht selten als Last-minute-Reisen ins Archiv statt und führten auch diesen jungen Journalisten (er meint sich selbst) nach Afghanistan, China, Japan und andere erlesene Länder, ohne Visum, ohne Flugticket, aber mit viel Chuzpe und einem wohlsortierten Vorrat an Pseudonymen.“

Naumann, genau dreißig Jahre später als Kulturstaatsminister a.D. eine Weile Chefredakteur und Mitherausgeber der „Zeit“, notiert das so sarkastisch wie offen. Er nennt es eine „journalistische Schande“, nicht ohne einen kleinen Seitenhieb auf den „Spiegel“ (dessen USA-Korrespondent er auch mal war): Dort sei das Fake-Verfahren, damals noch ohne Verfasserangabe Reisen ins eigene, legendäre Archiv als Vorortrecherchen auszugeben, ebenfalls üblich gewesen.

War Naumann ein Vorläufer von Tom Kummer?

Michael „Mike“ Naumann ein Tom Kummer der frühen Art? Jedenfalls ein Mann, der über das Schöngeistig-Philosophische hinaus im Journalismus, als Chef des Rowohlt Verlages oder als Kulturpolitiker im ersten Kabinett Schröder-Fischer so manches Realitätsprinzip erfahren hat. Über das Ethische, ob von Aristoteles, Kant oder Karl Jaspers formuliert, weiß er Bescheid, doch ist ihm auch an der Analyse im Ökonomischen, im Materiellen gelegen. Sein Kapitel über die wirtschaftsfreundliche Steuerpolitik des ansonsten geschätzten Freundes Gerhard Schröder und des SPD-Finanzministers Hans Eichel, über die Deregulierungen zur Jahrhundertwende, über die Gründe der späteren Finanzkrise und das Auseinanderdriften von Arm und Reich, das ist, so einfach und schlagend beschrieben, ein Lehrstück. Es sollte Schulbuchlektüre werden.

Der heute 75-jährige Autor beschönigt nichts, und einer der Vorzüge seiner über weite Strecken unterhaltsam, spannend, geistvoll zu lesenden Erinnerungen ist, dass sie aus Erfahrung klug, aber selten besserwisserisch erscheinen. Auch die unvermeidliche Eitelkeit fast aller Memoiren reflektiert Naumann immer wieder, ebenso wie die narzisstischen Anfechtungen eines erfolgreichen, äußerlich attraktiven und im Wesen überaus gewinnenden Mannes. Er kennt seine Vorzüge wie seine Grenzen, voller Respekt vor dem Genie wahrer Künstler, ob einer Elfriede Jelinek oder seines Freundes Daniel Barenboim, dessen musikalische und im besten Sinne interkulturell engagierte Barenboim-Said-Akademie er mit der ihm eigenen animierenden Verve seit 2015 als Gründungsrektor leitet.

Ein paar Irrtümer gäbe es indes bei einer Folgeauflage zu berichtigen. So wurde Nabokovs „Lolita“-Roman in Deutschland kein Gegenstand eines Gerichtsverfahrens; in Bayern war Ende der sechziger Jahre bei vorehelichen Beziehungen sehr wohl noch der Kuppelei-Paragraf zu beachten (die von Naumann erlebte Schwabinger Libertinage endete an der Münchner Stadtgrenze). Oder Imre Kertész, der Buchenwald-Überlebende und Literaturnobelpreisträger, ein Autor auch von Naumann bei Rowohlt, ist nicht erst „gut ein Jahr“ vor seinem Tod von Berlin in seine alte, problematische Heimatstadt Budapest zurückgekehrt. Und die erste Ehegattin „eine junge bildschöne Frau“ zu nennen – wer hätte eine alte, grausliche erwartet? Last not least zum guten Titel „Glück gehabt“: So hießen bereits, 1994 im Insel Verlag erschienen, die Memoiren des großen „FAZ“-Theaterkritikers Georg Hensel, den Naumann gewiss gekannt hat. Ich wundere mich, dass dies weder im Vor- noch Nachwort erwähnt wird. Doch nun kein weiteres Beckmessern. Denn Naumanns im Ganzen reiches, glückliches Leben ergibt ein scharfes, facettenreiches Spiegelbild eines 1941 geborenen Kriegs- und Nachkriegskindes, dessen Vater 1942 bei Stalingrad starb. Das Motto des Buchs ist dabei ein doppeltes: „Der Mensch ist frei... / Und würd’ er in Ketten geboren.“ Sagt Schiller. Und Heine erwidert: „Der Mensch ist frei, und würd’ er in Köthen geboren.“ Wie Naumann. Dem sachsen-anhaltinischen Städtchen, wo schon Bach musizierte und, zeitnäher, einer von Hitlers Leibärzten und noch schlimmere NS-Täter geboren wurden, gilt Naumanns kritische Aufmerksamkeit, immer wieder.

Naumann beschreibt sich als nervös und unstillbar neugierig

Mit der nach den NS-Rassegesetzen halb jüdischen Mutter und drei Geschwistern floh die Familie 1953 in den Westen, und aus familiären Erzählungen und später eigenen Beobachtungen zeichnet Naumann zugleich ein frühes bundesrepublikanisches Sittenbild: vor allem der lange braun eingefärbten Justiz. Noch dichter, andersfarbiger dann die immer wieder eingestreuten Kurzporträts von Weggefährten: von Autoren wie Peter Schneider, Paul Auster, Irene Dische, Péter Nádas, Herta Müller, Jürgen Flimm, Joachim Sartorius, von den Politikern Schröder, Lafontaine oder auch Putin. Über den alkoholsüchtigen „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein erfährt man, dass er zuletzt für seine noch immer prominent platzierten Kommentare Ghostwriter beschäftigte. Und Helmut Schmidt gesteht dem „Zeit“-Kollegen, dass die Bundeswehr bei einem russischen Angriff nie Gegenwehr geleistet hätte, man habe aus Schwäche allein auf die nukleare Abschreckung vertraut.

Der oft als Paradiesvogel beargwöhnte, sich selbst als nervöser, von innerer Unruhe und unstillbarer Neugier getriebene Naumann sagt am Ende: „Ein zielstrebiges Leben habe ich nicht geführt. Vielleicht weil ich kein Ziel hatte.“

So hat er indes mehr als nur ein Ziel erreicht. Und kann Kritik mit Witz und Selbstironie kontern. Als ihn bei Rowohlt der Erfolgsdramatiker Rolf Hochhuth einmal mit seinen berüchtigten Gedichten nervt, zitiert er die Auseinandersetzung: „Hochhuth zu Naumann: ,Von Lyrik verstehen Sie nichts!‘ Naumann zu Hochhuth: ,Das sagen Sie einem Mann, der soeben freiwillig Ihre Gedichte verlegt hat.‘ “ Nächster Satz, als Resümee: „Insofern hatte er recht.“ Das zeigt Klasse.

Michael Naumann: Glück gehabt. Hoffmann und Campe, Hamburg 2017. 416 S., 24 €. Buchpräsentation mit Naumann und Peer Steinbrück, Di, 30. 5., Schleichers Buchhandlung, Königin-Luise-Straße 41

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