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Kultur: Angst essen Kehle auf

Muntere Musiker, gusseiserne Tradition: Thomas Quasthoffs Lied-Wettbewerb in Berlin

In der arabischen Welt bläst die Generation Facebook zur Revolution – in Berlin ringt sie mit Johannes Brahms und Hugo Wolf. So spannend und vielsagend, so lehrreich und entlarvend wie heute jedenfalls war das Lied noch nie: Wegen des wachsenden historischen Abstands, wegen unseres Bildungsschwunds, und überhaupt hat das Lyrische ja nicht gerade Konjunktur. Was das Kunstlied mit unseren gesellschaftspolitischen, ökonomischen oder ästhetischen Befindlichkeiten zu tun hat? Nur wer es mit sich selbst aushält, wer Lust hat an Exegese, Hingabe, Konzentration und Innenschau, wird das je erfahren.

Dieser vermeintliche Anachronismus birgt die größte, schönste Chance: Warum nicht künstlerische Tugenden pflegen, Werte, die keiner mehr pflegt? Warum nicht wenigstens einen kleinen Wegweiser aufstellen in die entgegengesetzte Richtung, raus aus allem marktschreierischen Getümmel, dorthin, wo so etwas wie Stille, wie Einkehr sein kann? Das hat sich vor zwei Jahren auch der Bariton Thomas Quasthoff gefragt und einen opulent dotierten internationalen Wettbewerb ins Leben gerufen: „Das Lied“.

Dieser ist ausschließlich privat finanziert (durch das Ehepaar Arend und Brigitte Oetker im Verein mit Johanna Quandt), auf die Preisgelder von 67500 Euro darf getrost noch zweimal so viel draufgelegt werden für Saalmieten, Organisation, Juroren-Gagen und sonstige Umtriebe. Dieser Wettbewerb muss sich keine Sorgen machen (und könnte mit den Kartenpreisen zukünftig etwas homöopathischer verfahren). In Siebenmeilenstiefelschritten teilen sich die Preisträger die als Stipendien ausgeschütteten Prämien (30 000 für den ersten Rang, 15 000 für den zweiten, 7500 für den dritten, 10 000 für den besten Pianisten und 5000 für den Förderpreis), außerdem winken Meisterkurse und prominente Auftrittsmöglichkeiten von Baden-Baden über die Schubertiade Schwarzenberg bis zur Londoner Wigmore Hall. Wer sich hier durchsetzt, der gilt etwas als Liedinterpret.

Woran lag oder liegt es dann, dass der Wettbewerbsjahrgang 2011 nach dem Finale am Samstag und dem Preisträgerkonzert am Sonntag einen so durchwachsenen Eindruck hinterlässt? Ist der aufgebaute, aufgestaute Druck zu groß? 2009 waren in erster Linie sängerische und pianistische Harmlosigkeiten zu beklagen, die allgegenwärtige Nummer sicher in Köpfen, Herzen und Händen. Dieses Jahr wäre man dafür fast dankbar gewesen, Fragen der Gestaltung und Haltung stellten sich kaum. Alle Nervositäten, Intonationsschwächen, Phrasierungsfehler und Textunverständlichkeiten seien hier geschenkt. Daran lässt sich arbeiten. Aber wo, bitteschön, bleibt die Leidenschaft, die Fantasie, die innere Erregung, der Mitteilungsdrang? Liedgesang, das sind nicht Noten, das ist Existenz.

Amira Elmadfa, 31, die den ersten Preis gewann, hat einen angenehm schlanken, eher hoch timbrierten Mezzosopran. Ihre Ausdrucksmöglichkeiten und Farben jedoch sind in einer Weise limitiert, die nahelegt, dass sie nicht wirklich weiß, wovon Lieder wie Wolfs’ „An den Schlaf“ eigentlich handeln. Mehr Sing- als Lebenserfahrung (was kein Vorwurf sein kann!) lassen auch die britische Mezzosopranistin Anna Huntley und der deutsche Bariton David Pichlmaier vermuten, die sich den dritten Preis teilen: Sie mit großer Stimme und mächtigem Dauervibrato, er mit passablen Gestaltungsansätzen, wenngleich diese (etwa bei Brahms’ „Wie bis du, meine Königin“) nicht immer mit dem Notentext konform gehen dürften.

Noch etwas mehr Mut zum Risiko zeigt am Vortag Martin Häßler, zweiter Preisträger und ebenfalls Bariton, der beim Abschlusskonzert leider krankheitsbedingt fehlte. Bleiben die Förderpreisträger, das finnische Duo Aarne Pelkonen (Bariton) und sein Pianist Juho Alakärppä, die zwar musikalisch keine Schönheitskonkurrenz bestehen würden, durch eine gewisse Lebendigkeit aber aufhorchen ließen. Und der beste Pianist sollte der sanfteste sein: James Baillieu aus Südafrika.

Woran also liegt’s, dass man sich an diesen zwei Tagen im Kammermusiksaal so unbändig nach der postmodernen Pervertierung des Genres sehnt, nach einem Marthaler’schen Liederabend oder einer Dagmar Manzel mit Brahms’ „Schöner Magelone“? Warum wird man das Gefühl von an sich munteren jungen Musikern in gusseisernen Schraubstöcken nicht los? Zum einen mag es wenig günstig sein, dass der Jury-Vorsitzende Thomas Quasthoff mehr oder weniger allein zu entscheiden hatte, welche 40 Interpretenpaare aus den 150 Bewerbungen zu destillieren waren. Kunsturteile sind immer subjektiv. Zum anderen scheint sich die Jury (Annette Dasch, Brigitte Fassbaender, Robert Gambill, John Gilhooly, Charles Spencer, Eva Wagner-Pasquier) über das herrschende Niveau keineswegs ganz einig gewesen zu sein, statt der ursprünglich vorgesehenen zehn Finalisten jedenfalls waren es am Ende nur acht. Vielleicht hätte man gar nicht alle Preise vergeben sollen.

Zum dritten aber betritt hier zum ersten Mal im Liedgesang die Generation Facebook das Podium: Ein musikalischer Nachwuchs, der in seiner Kindheit durch soziale Netzwerke und YouTube gesurft ist, statt sandige Regenwürmer zu essen. Über 90 000 Clicks habe die FacebookSeite des Wettbewerbs zu verzeichnen, frohlockt Thomas Quasthoff in seiner Schlussansprache. Ein Ausweis für die Zeitgenossenschaft und Zukunft des Lieds ist das offenbar nicht.

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