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Zwei Töchter in Nicaragua beweinen den Mord an ihrem Vater. Ein Bild der Installation "Shadows".

©  Alfredo Jaar

Alfredo Jaar in der Galerie Thomas Schulte: Tanz des Todes

Sieben Bilder, die aufrütteln, mitreißen, sich ins Gehirn brennen: Alfredo Jaars Installation "Shadows" in der Galerie Thomas Schulte illuminiert die Geschichte einer unfassbaren Trauer.

Sieben Bilder nur, doch sie erzählen die Geschichte eines sinnlosen Todes, einer unfassbaren Trauer. Ein nicaraguanischer Campesino ist von Somozas Schergen ermordet worden, die das Land damals brutal ausbeuteten. Die Leiche wird mit einem Pick-up von anderen Bauern zur ärmlichen Hütte der Familie geschafft. Wenig später treffen die herbeigerufenen Töchter ein und führen überwältigt vom Schmerz eine Choreografie archaischer Größe auf: Sie reißen die Arme hoch wie im Tanz und stürzen dramatisch zu Boden; die Beine tragen sie nicht mehr.

Der holländische Fotograf Koen Wessing machte diese Aufnahmen 1978 in den letzten Tagen des Somoza-Regimes. Jahrzehnte später tauchen sie wie aus einer untergegangenen Epoche wieder auf und besitzen doch Ewigkeitswert durch den zeitlosen Ausdruck von Schmerz und Trauer. Der chilenische Künstler Alfredo Jaar holte sie erneut ans Licht – und das ist wörtlich zu verstehen. In der Galerie Thomas Schulte inszeniert er sie mit illuminierender Wucht; so schnell gleiten sie nicht wieder ins Dunkel der Archive ab.

Dem Einzelschicksal zu Aufmerksamkeit verhelfen

Während sechs Bilder in Leuchtkästen an der Wand hängen, wird das Zentralmotiv der beiden jungen Frauen, die auf der Landstraße schreiend herbeieilen und ihre Arme hochreißen, lebensgroß in einem verdunkelten Raum projiziert. Nach einer Weile verblasst der Hintergrund, nur die Frauen bleiben wie ausgeschnitten zurück, um im nächsten Moment von blendendem Licht hinterfangen zu werden. „Shadows“ nennt Jaar seine Arbeit: Die Schatten der Vergangenheit lasten immer noch schwer auf dem Land. Das Nachbild bleibt sekundenlang als Scherenschnitt präsent.

Die Methode des blendenden Lichts hat Jaar schon 2002 auf der Documenta 11 angewandt. Der Chilene will aufrütteln, mitreißen, dem singulären Bild, dem einzelnen Schicksal zu Aufmerksamkeit verhelfen. Die Erfahrungen in seinem eigenen Land mit dem Pinochet-Regime, die erzwungene Ausreise 1981 in die Vereinigten Staaten, wo er heute noch lebt, prägen seine Kunst. „Shadows“ ist der zweite Teil seiner Trilogie „The Sound of Silence“. Der erste befasst sich mit der berühmten Aufnahme des südafrikanischen Fotografen Kevin Carter von einem verhungernden Kind im Südsudan, das von einem Geier beobachtet wird. Der Fotograf erhielt dafür den Pulitzerpreis. Wenig später nahm sich Carter das Leben, er konnte den Vorwurf nicht mehr ertragen, selbst wie ein Aasfresser gewartet zu haben. Der Schockmoment kehrt ein zweites, drittes Mal zurück. Darauf setzt Jaar: dass sich etwas ins Gehirn einbrennt – und sei es mit der geballten Kraft mehrerer Blitzlicht-Birnen.

Eine Formel der Erinnerung und Empathie

Als Politkünstler sieht er sich dennoch nicht. „Alle Kunst ist politisch,“ sagt er. „Jede Geste besitzt eine politische Dimension, selbst der Akt des Ignorierens.“ Die Strategien des 61-Jährigen erinnern stark an die Siebziger, als Politkunst in Mode kam, die Künstler sich gesellschaftlich gefordert sahen und auf die Straße gingen. Fast noch mehr als die mit emotionalem Bombast operierenden „Shadows“ berührt den Betrachter die aus dem Jahr von Jaars Auswanderung stammende Serie „Telecomunicación“. Angeregt dazu hatte ihn die Kommunikationstechnik jener nordirischer Frauen, die mit Mülleimerdeckeln auf den Asphalt schlugen, wenn ein IRA-Häftling an den Folgen seines Hungerstreiks gestorben war.

Jaar platzierte an verschiedenen Orten seiner Heimatstadt Santiago de Chile und in der Umgebung sechs Mülleimerdeckel in einer Reihe – als sei es ein Witz oder minimalistische Kunst. Wenn Polizisten nachfragten, gab er ausweichende Antworten. „Telecommunicación“ ist ein schlichtes, ergreifendes Monument für die Ermordeten und Verschleppten des Pinochet-Regimes, das misstrauisch macht gegenüber der Harmlosigkeit einer Straßenecke, eines Spazierwegs. Jaar hat hier eine Formel der Erinnerung, der Empathie gefunden, die ohne jedes Blitzlichtgewitter auskommt (Preise auf Nachfrage).

Wie kann die Kunst sich gegen Populismus und Fremdenfeindlichkeit wehren?

In der Militärdiktatur blieb den Künstlern nichts anderes übrig, als mit verdeckten Botschaften zu arbeiten, eine eigene Sprache, neue Formen des Protestes zu finden. Jaar bleibt diesem Ansatz treu. Und natürlich wird einer wie er seit dem Beginn von Trumps Präsidentschaft noch dringlicher gefragt, was die Kunst nun leisten und wie sie sich wehren kann. „Das ist eine andere Situation, wir müssen neue Modelle entwickeln“, antwortet er dann und erklärt seinen Studenten, dass Kunst zu 99 Prozent aus Nachdenken und zu einem Prozent aus Machen besteht. Die Schließung von Galerien und Museen aus Protest hält er jedenfalls für falsch. Kunst und Kultur seien Freiräume, die es zu schützen und offenzuhalten gelte.

„Für mich ist das alles ein Déjà-vu, auch in Chile wurde die Demokratie zerstört“, sagt er bitter und erzählt von seinem ersten Impuls nach der Wahl, die USA zu verlassen und nach Berlin umzuziehen, wo er Anfang der neunziger Jahre als Daad-Stipendiat mit einer Installation am Pergamonaltar ein eindrückliches Werk gegen Fremdenfeindlichkeit schuf. In Neonschrift waren dort die Namen jener Orte zu lesen, an denen es damals Übergriffe auf Ausländer gab. Im Herbst hat ihn der Neue Berliner Kunstverein für eine Fassadenarbeit eingeladen. Sie wird wohl politisch sein.

Galerie Thomas Schulte, Charlottenstr. 24, bis 15. April; Di–Sa 12–18 Uhr.

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