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Sein Vermächtnis wirkt bis heute nach. Der 2008 verstorbene Lyriker und Philosoph Aimé Césaire.

© VINCENT KESSLER / REUTERS

Aimé Césaires Essay „Über den Kolonialismus“: Schwarze Weltliteratur

Aimé Césaires Essay „Über den Kolonialismus“ ist ein Schlüsseltext der black history und der négritude. Gerade ist eine gut kommentierte Neuausgabe erschienen.

Es ist ist eines der Themen dieses Jahres. Stichwort: Kolonialismus. Europas kolonialistische Vergangenheit und die angerichteten Folgen im Nahen Osten, in Afrika und Amerika spielen hinein in zahllose Debatten: über neuen und alten Rassismus, über neue und alte Formen der Ausbeutung ärmerer Länder, über willkürlich errichtete und in Kriegen jetzt wieder zerfallende Staaten, über die Ursachen von Flucht und Migration.

In Berlin kommt beim Streit um das künftige Humboldt-Forum noch die Frage des Umgangs mit Kunst- und Kultwerken aus früheren Kolonien hinzu. Deshalb ist es interessant, jetzt eine gut kommentierte Neuausgabe des im Französischen zuerst 1950 erschienenen Essays von Aimé Césaire „Über den Kolonialismus“ lesen zu können (Alexander Verlag Berlin, 118 Seiten, 12, 90 Euro).

Einer der bedeutendsten schwarzen Lyriker seiner Zeit

Césaire (1913–2008), aus Martinique stammender Autor und Politiker, war der wohl bedeutendste schwarze Lyriker seiner Zeit – um nicht zu sagen: aller Zeiten. Seinen „Discours sur le colonialisme“ hatte er ursprünglich für eine französische Zeitschrift verfasst und dann 1955 nochmals erweitert. Darauf beruht auch die von Heribert Becker neu durchgesehene Übersetzung. Es ist ein Schlüsseltext für die politische und kulturelle Selbstbehauptung aller Schwarzen, ob als Nachfahren von Sklaven oder als Kolonisierte. Zugleich ein Schlüsseltext jener „Négritude“, die Césaire begründet und mit seinem gleichfalls von der Dichtung in die Politik geratenen Kollegen Leopold Senghor, dem ersten Präsidenten im 1960 unabhängig gewordenen Senegal, entwickelt hat.

Césaire schaut dabei auf Formen und Folgen des Kolonialismus von Amerika bis Ozeanien, erinnert auch an die Kultur der Indianer oder Azteken und nennt, sehr modern, die Namen der großen Konzerne als neue Wirtschaftsimperialisten. Und was seien die Früchte, hinterlassen von den weißen Herren: „Sicherheit? Bildung? Rechtsstaatlichkeit? Nun, ich sehe überall dort, wo Kolonisatoren und Kolonisierte sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, Zwang, Brutalität, Grausamkeit, Sadismus, Spannung und als Parodie auf jedes Bildungswesen die überstürzte Fabrikation von einigen tausend subalternen Beamten, von Hausangestellten, Handwerkern, kaufmännischen Angestellten und Dolmetschern, die für das gute Gedeihen der (fremden) Geschäfte notwendig sind.“

Leider gibt es derzeit noch keinen Band seiner Gedichte auf Deutsch

Césaire schreibt als schwarzer Wutbürger, aber mit Sprachmacht und universeller Bildung. Er erinnert an Hochkulturen, etwa in Vietnam, die es vor der französischen Erfindung von „Indochine“ gegeben habe, fragt nach afrikanischer Musik (nicht nur dem Jazz) oder schreibt: „Sudanesische Kaiserreiche? Bronzen aus dem Benin? Shongo-Bildhauerei?“ Das sei doch „mal etwas anderes als alle diese hanebüchenen Machwerke, die so viele europäische Hauptstädte verunzieren.“

Wohl sind hier manche „exotische“ Exponate in den Museen von London, Brüssel, Paris oder Berlin gemeint. Und Césaire verweist darauf, „was die ersten (westlichen) Forschungsreisenden gesehen haben... Nicht die, die an den Futterkrippen der Konzerne fressen!“ Sondern Forscher und Autoren wie François d'Elbée im Dienst der Westindien Company oder der deutsche Ethnologe Leo Frobenius (1873-1938), der laut Césaire schon so markig wie modern befunden hatte: „Zivilisiert bis ins Knochenmark! Die Vorstellung vom barbarischen Neger ist eine europäische Erfindung!“

Eine kulturelle Schande ist freilich, dass es auf Deutsch derzeit keinen Band mit Césaires visionären, bildreichen Gedichten gibt. So fehlt ein Stück Weltliteratur. Zitat aus Hans Magnus Enzensbergers legendärem „Museum der modernen Poesie“, der Schluss dort von Césaires „Ein Massaker unter anderem“: „Sie haben mir Dreck in die Augen gestreut / und ich sehe schrecklich sehe ich / von allen Bergen und Inseln / werden nur faule Stümpfe übrigbleiben / im verstockten Speichel des Meeres.“

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