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Alt wie ein Clown. Chuck Berry bei einem Auftritt im Jahr 2007.

© dpa

90 Jahre Chuck Berry: Im Duckwalk an Elvis vorbei

Er brachte den Blues in die Städte und machte Musiker zu Superhelden. Jetzt will er eine neue Platte machen. Chuck Berry, dem ersten Mitglied der Rock and Roll Hall of Fame, zum 90. Geburtstag.

Mit dem Rock’n’Roll, dem Alter und der Würde ist das so eine Sache. Wer einst mit ein paar genuinen Einfällen die Musikwelt veränderte, der gibt auf der Never-Ending-Tour nicht immer ein gutes Bild ab. Es sei denn, er erfindet sich neu – oder wird neu erfunden.

Chuck Berry blieb das verwehrt. Dass er mit dem schlüpfrigen Gelegenheits-Cover „My Ding-a-Ling“ 1972 spät seine erste US-Nummer-1 hatte, steht nicht wirklich für ein grandioses Alterswerk. Und auch das endlose Gecovert-, Zitiert- und Referenziertwerden – die Tanzszene in „Pulp Fiction“, Marty McFlys Gitarreneinlage im ersten Teil von „Zurück in die Zukunft“ – hat dem Original nur bedingt zu einem Altern in Würde verholfen. Doch dazu später mehr.

Die Zukunft hatte in dem Moment begonnen

Chuck Berry gehört – mehr noch vielleicht als Elvis Presley, als Little Richard, ohnehin als Bill Haley – ein Moment, der die Welt veränderte. Bei Youtube gibt es eine Live-Aufnahme von Berrys erstem und noch etwas hillbilly-mäßig einherstampfendem Hit „Maybellene“ von 1955. Chuck Berry kaspert schlaksig auf die Bühne, während eine weiße Viererband aus Schlagzeug, Gitarre, Klavier und Kontrabass schmissigen Jazz spielt - es klingt ein bisschen wie Thomas Reichs „Up to date“, die Titelmusik des „ZDF-Sportstudios“. Als Berry den Verstärker aufdreht, verstummt sie sofort.

Mit den ersten Takten von „Maybellene“ scheint dann plötzlich eine Zeitreise Marty McFlyschen Ausmaßes stattgefunden zu haben. Die Zukunft – der Weg des Berryschen Erbes, der an Elvis vorbei direkt zu den Beatles, den Beach Boys und dann, im Duckwalk, zu Angus Young von AC/DC führt – hat genau in diesem Moment begonnen.

Gitarrensoli als irdische Epiphanie

Und dabei geht es um weit mehr als um eine Musik, die sich diverse Einflüsse einer entstehenden populären Kultur einverleibte. Es geht um mehr als um die urbane Beschleunigung des ländlichen Blues durch den musizierenden Autoschlosser Chuck Berry aus St. Louis, Missouri. Es geht auch um eine kulturelle Geste, um den Front- als Showman und die Gitarre als Phallus, es geht um Musiker als Superhelden und Soli als irdische Epiphanie. Chuck Berry ist erstes Mitglied überhaupt der Rock and Roll Hall of Fame, er ist es vollkommen zurecht.

Wer Chuck Berrys Autobiografie von 1987 liest, liest übergroß vom Wunsch nach Anerkennung. Autos und Frauen spielen dabei eine große Rolle, zugleich ist da die bittere Erkenntnis, in den 1950ern selbst in der Showwelt als Schwarzer massiv diskriminiert zu werden. Wer sich LPs von Berry anhört, merkt zudem schnell, dass, so kraftvoll und stilprägend die Riffs von „Roll over Beethoven“ (1956) und vor allem natürlich „Johnny B. Goode“ (1958) auch waren, der musikalische Fundus des Pioniers Grenzen hatte.

Berrys Leben entgleiste immer wieder

Vor diesem Hintergrund scheint es menschlich nicht ganz unplausibel, dass Berrys Leben später immer mal wieder entgleiste – Geldsorgen, Sexskandale, Steuerfahndung. Es scheint auch leider folgerichtig, dass Berry es nicht lassen kann und bis heute regelmäßig Konzerte im Kultclub „Blueberry Hill“ in seiner Heimatstadt St. Louis gibt – eine unwürdige und musikalisch belanglose Zurschaustellung eines greisen, teilweise ernsthaft verwirrt wirkenden Ex-Virtuosen vor (zum allergrößten Teil weißen) Gaffern.

Und doch ist da auch etwas, das Chuck Berry bis heute zuverlässig gelingt: Es ist der Beginn des Johnny-B.-Goode–Intros, die synkopierten Quinten klingen energetisch wie eh und je. Danach bricht das musikalische Konstrukt zusammen, umso heller aber strahlt, in einem kleinen Moment der Gegenwart, ein großer Moment der Musikgeschichte.

Chuck Berry wird am heutigen Dienstag, dem 18. Oktober 2016, 90 Jahre alt. Am Tag selbst kündigte er ein neues Studioalbum an, das erste seit 1979. Zu wünschen wäre ihm von Herzen, dass er sich damit neu erfinden kann.

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