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London leuchtet. Eine Jubiläumsinstallation am Guildhall-Komplex.

© Imago/ZUMA Press

400. Todestag von William Shakespeare: Master of the Universe

William Shakespeare, so sagt man, hat nach Gott am meisten geschaffen. Vielleicht sogar Besseres. Alles Glück und alle Katastrophen der Welt brachte er in seinen Stücken auf die Bühne.

Einem in die Jahre gekommenen Mann mit starker Einbildungskraft, der sich für einen noch immer hohen Herrn hält, folgt ein kleiner, manchmal komischer Diener, der oft mehr Überblick hat über die Welt, auch aus niederer Warte. Eigentlich eine klassische Konstellation. Aber Don Quijote und sein Gefolgsmann Sancho Panza sind bis heute ein sehr besonderes Paar.

Der Roman vom „Ritter mit der traurigen Gestalt“ ist vollständig erst nach dem Tod seines Schöpfers erschienen. Und ja, an diesem Wochenende feiert Spanien den 400. Todestag von Miguel de Cervantes, mit einigem Pomp – und etwas Pech. Denn gleichzeitig wird auch William Shakespeare gefeiert, dessen Tod auf den 23. April 1616 datiert. Eine wohl übermächtige Konkurrenz (auch wenn Shakespeare nach heutigem Kalender eigentlich erst am 3. Mai dran ist).

Übrigens könnte die Szene mit dem hohen Herrn und dem kleinen Diener auch von Shakespeare stammen, aus seinem „King Lear“. Auch das Drama des alten Königs bringt einen in tödlichen Illusionen befangenen Helden auf die Bühne – und seinen die lachhaft verrückte Wahrheit aussprechenden Diener und Hofnarren, Lears hellen Schatten. Die schönste deutsche Übertragung des Stücks stammt bis heute vom Romantiker Luwig Tieck, dessen Tochter Dorothea zusammen mit August Wilhelm Schlegel und Wolfgang Heinrich von Baudissin 1797 ihre legendäre Schlegel-Tieck-Ausgabe der Shakespeare-Dramen begonnen hatte. Ludwig Tieck stieg selber erst später bei der erweiterten Ausgabe ein, weil er zu Beginn des Unternehmens noch mit einer anderen Übersetzung beschäftigt war: mit der Eindeutschung des „Don Quijote“.

Nichts Menschliches ist ihm fremd

Nach Gott, heißt es, hat Shakespeare am meisten geschaffen. Vermutlich sogar: Besseres. Wenngleich auch umgekehrt gilt, dass Shakespeare alle Katastrophen dieser Welt im ahnungsvoll wissenden Ansatz schon mitbedacht hat. Und das wunderbarste Glück, die schönsten Herrlichkeiten ebenso. Nichts Menschliches, nichts Unmenschliches ist ihm fremd.

Das Wesen der Diktatur und das Wirken von Geheimdiensten, lies nach, schau nach im „Hamlet“. Das „Pendel der Macht“, wie es Jan Kott, der genaueste Shakespeare-Leser, genannt hat, schwingt durch die Königsdramen und den „Macbeth“ (dessen Finale in jedem Führerbunker spielen könnte). Das Gespenst des Rassismus: verkörpert im „Kaufmann von Venedig“ (dem Shylock-Drama) oder in „Othello“. Feminismus, Machismo, Homosexualität, Transgender-Kultur, Übersinnlichkeit, Grenzen der Logik, Monsterwesen, alle und alles schon enthalten in diesem Wahnsinnswerk von vor mehr als 400 Jahren, das mehr erzählt, als sich unsere Weisheit („our philosophies“) träumen lässt.

Die geisterhafte Vollendung aller shakespeareschen Fantasien ist am Ende von fast vierzig Stücken die Geschichte eines Flüchtlings. Prospero, der Zauberer im „Sturm“, ist auch des Dichters Alter Ego, gestrandet auf einer Insel im Mittelmeer, zwischen Süditalien und Afrika. Jan Kott nannte ihn 1964 unseren Zeitgenossen, „Shakespeare our Contemporary“, so der Titel seines grundlegenden Buchs (deutsch: „Shakespeare heute“).

Nur Shakespeare überfliegt alle Grenzen

Alle große Kunst und Dichtung ist zugleich lokal und global. Aber Dante steht zuerst für Italien, Tolstoi für Russland, Goethe ist deutsch, Proust französisch, Hemingway amerikanisch. Nur Shakespeare überfliegt alle Grenzen. Er ist der wahre Brexit: Britanniens Austritt in die Welt. Ein Master of Universe. Als auf Initiative von Peter Brook, dem bedeutendsten Shakespeare-Regisseur, 1989 in London zum 25-jährigen Jubiläums von Kotts Buch ein internationaler Kongress stattfand, redeten zwar alle Englisch. Und als Jan Kott, der Exil-Pole, mit seinem schweren Akzent sprach, ergänzte dies ein japanischer Theaterwissenschaftler um eine fernöstliche Wendung und so fort. Bis plötzlich eine ungarische Expertin aufsprang und allen widersprach, weil „im Original“ doch etwas anders stehe. Dabei hielt sie eine romantische ungarische Übersetzung in der Hand, ihren eigenen Shakespeare. Die Deutschen, von Wieland bis Schlegel, Goethe, Gundolf, Heiner Müller oder Botho Strauß, sie halten Big Will gleichfalls für einen Bruder im eigenen Geist.

Freilich fragt sich seit Langem, ob jener am 23. April 1616 in Stratford- upon-Avon verstorbene Ex-Schauspieler und Kaufmann namens Shakespeare auch identisch ist mit dem Autor jenes ungeheuren Werks. Als der Mann aus Stratford das Zeitliche segnete, hinterließ er in seinem vermögenden Hausstand kein einziges Buch, nicht einmal eine Bibel. Von dem Verstorbenen existieren keine Manuskripte, nur ein paar krakelige, schreibungeübte Versuche einer namentlichen Unterschrift. Der seit einer Weile verstummte Dichter Shakespeare aber galt eben noch als Superstar des elisabethanischen Showbusiness. Doch von dem Tod in Stratford nahm keiner Notiz – erst Jahre später begann sein von mächtiger Hinterhand inszenierter Nachruhm.

Seine Identität bleibt ein Geheimnis

Daher rührt die These, dass der bestenfalls halbgebildete Herr aus Stratford, der England wohl nie verlassen hat, nicht der Autor eines weltumspannenden, mit Detailkenntnissen des höfischen Adels sowie tausenderlei biblischen, griechischrömischen, französischen, italienischen, deutschen Anspielungen versehenen Universalwerks gewesen sein kann. Dass der real existierende Schauspieler und Theaterbetreiber William Shakespeare also ein Strohmann war – etwa des poetisch begabten Theaterliebhabers Edmond de Vere, eines Earl of Oxford, dem es am Hof von Elizabeth I. untersagt gewesen wäre, den bürgerlichen Beruf eines Schriftstellers auszuüben.

De Vere gilt, zuletzt auch in Roland Emmerichs Film „Anonymus“, als Favorit der großen Urheberdebatte, auch wenn sein Tod im Jahr 1604 gegen ihn als Autor einiger späterer Shakespeare-Stücke spricht. Und selbst wenn er sie gleichsam auf Vorrat hinterlassen hätte: Wieso hat kein Mitwisser das Geheimnis je verraten? Peter Brook gibt obendrein zu bedenken, dass bei den Proben der Stücke im Londoner Globe Theatre Partien noch bis zuletzt umgeschrieben wurden, dass Akteure aus praktischen Gründen oft spontane Änderungswünsche hatten – da wäre es in der klatschsüchtigen Theaterbranche sofort aufgefallen, wenn Master Shakespeare jedesmal verschwunden wäre und ein ominöser (gleichfalls berühmter) Anonymus zur Feder hätte greifen müssen. Nicht mal mit Handy und Internet würde das heute funktionieren.

So bleibt das Geheimnis. Shakespeare ist tot, aber Shakespeare lebt.

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