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100 Jahre Deutsche Oper: Das Märchen aus dem goldenen Westen

Stolze Gründerjahre, Zerstörung im Krieg, zweites Leben im neuen Haus, Unsicherheit nach der Wende: Die Geschichte der Deutschen Oper ist lang und ereignisreich. Eine Oper der Bürger ist das Haus dabei immer geblieben. Eine Hommage.

Vom alten Glanz hat der Krieg nichts übrig gelassen. Wer heute die Bismarckstraße vom Ernst-Reuter-Platz zur Deutschen Oper entlangflaniert, trifft zwischen all den Neubauten gerade mal auf zwei Gründerzeithäuser. Arg bedrängt werden sie von der brutalen, seelenlosen Investorenarchitektur aus den fünfziger, siebziger und neunziger Jahren. Besonders bedrohlich wirken die beiden Wohnmaschinen kurz vor der Krummen Straße, vielgeschossige Kolosse von Moskauer Ausmaßen. Unablässig brandet der Verkehr gegen die schmucklosen Fassaden.

Nur mit viel Fantasie kann man sich die Situation vor fast genau einem Jahrhundert vorstellen, als das Deutsche Opernhaus am 7. November 1912 mit Beethovens „Fidelio“ eingeweiht wurde. Was war Charlottenburg damals für eine stolze Kommune, die neureiche Nebenbuhlerin Berlins, eine mit allem modernen Komfort prunkende Metropole. 1893 hatte man die 100 000-Einwohner- Marke geknackt, war offiziell zur Großstadt geworden, 1910 zählte der Goldene Westen bereits 306 000 Bürgerinnen und Bürger. Ein neues Rathaus mit 88 Meter hohem Turm hatte man sich 1905 spendiert, 1907 wurden KaDeWe und Schillertheater eröffnet, 1909 der bald legendäre Luna-Park in Halensee. Im selben Jahr wie die Oper nahm auch das Marmorhaus den Spielbetrieb auf, der prächtige Lichtspielpalast am Kurfürstendamm.

„Dieses Charlottenburg mit seiner besseren Luft und seiner größeren Stille hat die Zukunft“, schwärmt Alfred Kerr 1896 in einer seiner Reportagen für die Breslauer Zeitung. „Schon jetzt ist die Bevölkerung, die hier wohnt, etwas besser als die bloße ,Bevölkerung’. Sie besteht vorwiegend aus wohlhabenden Leuten, die zugleich einer geistigen Tätigkeit nachgehen. Es ist nicht eine bequeme Geldaristokratie, sondern ein großer Kreis von vermögenden Architekten, Ingenieuren, Künstlern, auch Schriftstellern.“

Diese selbstbewusste Bourgeoisie schafft sich angemessene Freizeitbeschäftigungen in ihrer Nähe. Man treibt Sport – „nicht bloß in zierlicher Dilettanterei“, wie Kerr betont –, und man will zeitgenössische Bühnenkunst sehen. Schon das Schillertheater entsteht aus einer Bürgerinitiative heraus, als ästhetische Volksbildungsanstalt, mit privatem Geld betrieben. Dieses Prinzip schreibt sich auch der Große Berliner Opernverein auf die Fahnen. Seine Mitglieder sind mit den Aufführungen der Hofoper unzufrieden, die auf kaiserlichen Wunsch im Ausstattungspomp erstickt. Und sie wollen eine angemessene Spielstätte für die Werke Richard Wagners schaffen.

Zunächst favorisiert man einen Standort am Kurfürstendamm, dann rückt der Bauplatz an der Bismarckstraße ins Blickfeld. Als public private partnership realisieren Stadt und Betriebs-AG ihr ehrgeiziges Projekt. Charlottenburg errichtet für drei Millionen Reichsmark das Gebäude und verpachtet es an die privaten Nutzer, die alle Folgekosten zu tragen haben. Den Entwurf liefert der lokale Stadtbaurat Heinrich Seeling, der bereits am Schiffbauerdamm sowie in Gera und Nürnberg Theater errichtet hat. Anders als in Franken, wo Seeling mit prächtiger Pseudorenaissance auftrumpft, wählt er aus dem Stilhandbuch hier allerdings den Neoklassizismus, schafft ein wuchtiges Ensemble mit vorgeblendeten ionischen Säulen und grobschlächtigen Proportionen. Als „unzaubrischstes aller Theater“ hat Bruno Walter, ab 1925 Generalmusikdirektor, das Haus einmal bezeichnet.

Das Publikum strömt dennoch, denn die Leute sind neugierig auf die damals größte Bühne der Welt. Hier lassen sich Wagners Musikdramen viel adäquater aufführen als in der Enge der barocken Lindenoper! Es gibt sogar einen Schalldeckel über dem Orchestergraben, ganz wie auf dem Grünen Hügel. Allerdings werden „Holländer“, „Tristan“ & Co. erst zum Ende des Jahres 1913 tantiemenfrei. Daher spielt man sich in Charlottenburg zunächst mit Mozart, Weber und Lortzing warm. Und es gibt die deutsche Erstaufführung von Giacomo Puccinis neuester Oper „Das Mädchen aus dem Goldenen Westen“, zu der sogar der italienische Komponist anreist.

Dann aber ist es endlich soweit, das Orchester wird von 75 auf 85 Mann aufgestockt, die Wagner-Wonnen können beginnen. Und zwar gleich am 1. Januar 1914 mit dem „Parsifal“, dessen weltweiter Verbreitung nun keine rechtlichen Hürden mehr im Weg stehen, obgleich der Komponist das Werk doch eigentlich nur in Bayreuth aufgeführt wissen wollte. Als zweites Theater bringt das Deutsche Opernhaus die Gralsritter-Geschichte heraus – nur in Buenos Aires war man dank einer Mitternachtspremiere noch schneller. Mit zehn Tagen Verspätung kleckert die Berliner Staatsoper hinterher.

Zügig wird das Wagner-Repertoire in Charlottenburg ausgebaut, es folgen „Meistersinger“, „Lohengrin“, „Tannhäuser“, die ersten drei Abende des „Ring“. Die Vollendung der Tetralogie aber verhindert der Weltkriegswahnsinn. Zunächst läuft der Betrieb weiter, dann wird aus Gründen der Energieersparnis die abendliche Aufführungsdauer auf maximal drei Stunden festgelegt. Zu kurz für die monumentalen Wagneropern.

Ohne die Kassenknüller aber gerät das Haus bald in finanzielle Schwierigkeiten, die Wirtschaftskrise tut ein Übriges. Zweimal streikt das Orchester, um sein Gehalt einzufordern, im Dezember 1924 wird schließlich nur noch „auf Teilung“ gespielt: Jeden Abend wird der Erlös der Vorstellung an die Belegschaft ausgeschüttet. An Heiligabend muss die Betriebs-Aktiengesellschaft schließlich den Konkursantrag stellen. Die Stadt springt ein – seit 1920 gehört Charlottenburg zu Groß-Berlin –, übernimmt das Theater und nennt es in „Städtische Oper“ um. Der Vorhang geht wieder hoch, doch das Haus wird fortan zum Spielball politischer Interessen.

Künstlerisch geht es mit Intendant Heinz Tietjen und Musikchef Bruno Walter erst mal bergauf. Allerdings wandern beide schon 1929 wieder ab, Tietjen zur Staatsoper, Walter ans Leipziger Gewandhaus. Carl Ebert übernimmt die Geschäfte, wird aber kurz nach der „Machtübernahme“ von den Nazis verjagt. Goebbels will das Haus als repräsentative Bühne nutzen, ruck zuck! wird auch eine Führer-Loge eingebaut.

Weil die Staatsoper bereits ausgebombt ist, findet 1941 ein spektakuläres Gastspiel der Römischen Oper in Charlottenburg statt, am 23. November 1943 aber fällt dann auch Seelings Gebäude in Schutt und Asche. Nach 1945 findet die nun wieder von Tietjen geleitete Truppe Unterschlupf im Theater des Westens. Hier schreiben der blutjunge Dietrich Fischer-Dieskau und sein Dirigent Ferenc Fricsay mit einem sensationellen „Don Carlos“ Berliner Musikgeschichte. Ab 1954 führt Carl Ebert die Städtische Oper in eine künstlerische Glanzzeit, mit Solisten wie Pilar Lorengar und Josef Greindl sowie Ballettchefin Tatjana Gsovsky.

Nach dem Krieg: Neues Haus, alter Charakter

Für die Stadt allerdings hat die Wiederherstellung der Staatsoper Priorität. Erst durch den sich verschärfenden Kalten Krieg rückt auch die Charlottenburger Bühne in den Blickpunkt, 1956 geht Fritz Bornemann als Sieger aus einem Architektenwettbewerb hervor. Weil niemand das 1912 errichtete Gebäude für denkmalwürdig hält, entsteht unter Einbeziehung des noch nutzbaren Verwaltungstrakts und Teilen des Bühnenturms ein zeitgemäßes Musiktheater. Wenige Wochen nach dem Mauerbau ist es spielbereit, die Eröffnungspremiere, Mozarts „Don Giovanni“, wird als eine der ersten Opern überhaupt live im Fernsehen übertragen. Für die nun Deutsche Oper Berlin genannte Institution beginnt, nur 49 Jahre nach ihrer Gründung, ein zweites Leben.

Auch in seiner neuen architektonischen Hülle bleibt das Haus eine Oper der Bürger. Manchmal auch der Wutbürger: Legendär die Saalschlachten, die Hans Neuenfels’ Verdi-Deutungen in den achtziger Jahren auslösten – um hinterher, im Repertoirebetrieb, Kultinszenierungen zu werden. Die hohe Ensemblekultur bleibt aus den Amtszeiten von Gustav Rudolf Sellner und Egon Seefehlner in Erinnerung. Und nach dem eher kuriosen Intendanz-Intermezzo des Cellovirtuosen Siegfried Palm sorgt Götz Friedrich ab 1981 für Höhenflüge des realistischen Musiktheaters.

Einen wirklich prägenden Chefdirigenten hat es in den vergangenen Jahrzehnten nicht gegeben. Zu kurz blieben Lorin Maazel und Christian Thielemann, Giuseppe Sinopoli ging schon, bevor er angefangen hatte, Rafael Frühbeck de Burgos und Renato Palumbo enttäuschten selbst niedrigste Erwartungen. Allein Jesus Lopez Cobos waren neun fruchtbare Jahre vergönnt. Dass ihn der seit Herbst 2009 amtierende Generalmusikdirektor Donald Runnicles nun zur Jubiläumsgala eingeladen hat, ist eine schöne Geste.

Im Kulturbiotop der Mauerstadt führte die Deutsche Oper ein finanziell voll abgepuffertes, glanzvolles Leben. Doch dann waren’s plötzlich wieder drei Musiktheater – und den ehemaligen Platzhirschen von West-Berlin fiel es schwer, sich auf die neue Konkurrenz einzustellen. Götz Friedrich verließ sich zu sehr auf seinen Ruhm, seinem Nachfolger, dem Komponisten Udo Zimmermann, gelang kein ästhetischer Neubeginn, aus der Amtszeit von Kirsten Harms hat sich vor allem der „Idomeneo“-Skandal im kollektiven Gedächtnis eingeprägt. In den endlosen kulturpolitischen Debatten der Nachwendezeit über die Notwendigkeit von drei Opernhäusern im wiedervereinigten Berlin brauchte es die ganze Kraft und Liebe des alten West-Berlin, um die Deutsche Oper zu retten – wenn auch als chronisch unterfinanzierte Institution.

In den letzten Jahren sind die Angriffe aus der Lokalpolitik auf die hauptstädtische Musiktheaterszene zum Glück weitgehend abgeebbt, von lächerlichen Piratenattacken mal abgesehen. Seit die Staatsoper ihr Ausweichquartier im Schillertheater an der Bismarckstraße bezogen hat, gilt auf jeden Fall: Große Oper findet in Charlottenburg statt. In Sichtweite – und auf Augenhöhe.

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