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Unten alt, oben neu: Die Schokoladenseite des Radialsystems am Spreeufer.

© Sebastian Bolesch

10 Jahre Radialsystem: Freiheit am Fluss

Das Radialsystem hat sich als ungewöhnlicher Ort für Konzerte, Tanz und Konferenzen etabliert. Jetzt feiert es zehnjähriges Jubiläum. Es steht für das neue Berlin – und könnte darin verschwinden.

Der Name ist genial: Radialsystem. Gerade fremd und sperrig genug, um neugierig zu machen. Und dabei nicht mal den Köpfen irgendeiner Marketingabteilung entsprungen. Das Gebäude an der Spree hieß wirklich so: Radialsystem V. Die Zahl weist darauf hin, dass es nicht das einzige seiner Art war. Zwölf Pumpwerke ließ Stadtplaner und Kanalisationsbauer James Hobrecht im 19. Jahrhundert anlegen. Jedes war für ein bestimmtes Areal zuständig und pumpte Abwasser auf die Rieselfelder der Millionenstadt.

Viel Dynamik und Kraft steckt in dem Namen, etwas nach außen Gerichtetes, man denkt an Linien und Strahlen, die radial von einem Punkt ausgehen. Statt Abwasser pumpt das Haus heute Ideen in die Welt. Und feiert jetzt Jubiläum: Seit 2006 ist das Radialsystem eines der spannendsten Konzerthäuser Berlins.

Mit einem Sprung ins Wasser begann es auch. „Dido und Aeneas“ von Henry Purcell, 2005 an der Berliner Staatsoper inszeniert von der Choreografin Sasha Waltz, wurde zum Urknall für das Radialsystem in seiner heutigen Form. Damals lernten sich die beiden Protagonisten kennen: Jochen Sandig, der bereits das Kunsthaus Tacheles, die Tanzkompanie Sasha Waltz & Guests und die Sophiensäle gegründet oder mitbegründet hatte, und Folkert Uhde, damals Manager und Dramaturg der Akademie für Alte Musik. „Das war so großartig, das musste doch irgendwie weitergehen“, sagt Sandig. So suchten sie geeignete Räume für neue Projekte.

Ein Blick von der Terrasse zeigt, wie weitsichtig die Standortwahl war

Entscheidend war die Idee des Architekten Gerhard Spangenberg. Er überzeugte einen Privatmann aus dem Ruhrgebiet, das ruinöse Pumpwerk an der Holzmarktstraße zu kaufen. In einer Stadt, die unendliche Baustellen in den Genen hat, dauerten Umbau und Sanierung nur ein spektakuläres Jahr. Spangenberg ließ dem Bau an der Straßenseite seine historisches Fassade, ummantelte ihn aber an der Flussseite mit einem gläsernen Riegel, in dem zusätzliche Studios untergebracht sind. Das Radialsystem als Mieter kostete diese Modernisierung keinen Cent. Nur auf die Höhe der Miete schlug es natürlich durch.

Der Blick von der Terrasse zeigt, wie weitsichtig die Standortwahl war. Die Nachbarschaft bündelt heute, was man 2006 noch kaum ahnen konnte, alle Facetten von Berlins krassem Wandel. Partyzone, Touristenrevier, Gentrifizierungs-Hotspot und Ex-Hausbesetzerparadies, alles existiert nebeneinander, wie lange noch? Der Verdi-Neubau teilt sich das andere Flussufer mit der Ruine der Eisfabrik, dazwischen die Köpi, einst autonom, inzwischen legalisiert. Yaam und Kater Blau erinnern an die nuller Jahre, das Holzmarkt ist im Bau und soll ein Stadtteil für Kreative werden. Überhaupt, der Straßenname! Holzmarktstraße, hier war schon immer was los, wurde gehandelt und verkauft, die Holzmarktstraße war eine wichtige Ausfallstraße seit dem Mittelalter, später dann direkte Route zum Schönefelder Flughafen. Auf der Spree pflügen Ausflugsschiffe durchs Wasser, Kohlenkähne schippern Richtung Polen. Alles ist in Bewegung, alles fließt.

Der typische Tadialsystem-Augenblick: Ein produktiver Moment der Verstörung

Das färbt ab. Im Radialsystem ist vieles anders. Hier hört man Musik im Liegen (bei den „Nachtmusiken“), hier klettert das Solistenensemble Kaleidoskop aufs Dach. Bayreuth-Sopranistin Annette Dasch singt und moderiert den Dasch-Salon, Il Giardino Armonico wollen bis 2032 alle 107 Sinfonien von Joseph Haydn einspielen, Felix Krieger entreißt mit seiner Berliner Operngruppe italienisches Repertoire dem Vergessen, das ID-Festival zapft das kreative Potenzial der in Berlin lebenden israelischen Expats an. Viel Tanz, viel Barockes und zeitgenössische Musik, weniger das klassisch-romantische Repertoire dazwischen, das bekommt andernorts genug Aufmerksamkeit. Das Hybride ist Konzept, die Künste sollen sich auf Augenhöhe begegnen, keine die andere dominieren. Einer der größten Erfolge war Jochen Sandigs erste Regiearbeit „Human Requiem“ (wieder am 8. und 9. Oktober) nach Johannes Brahms mit dem Rundfunkchor Berlin. Klänge, die plötzlich im Raum hängen, ohne sichtbare Quelle, weil sich die Sänger mitten im Publikum befinden. Das ist der typische Radialsystem-Augenblick: ein produktiver Moment der Verstörung. Was ist da los, wo kommt das her? Die Besucher – 550 000 sind es seit 2006 – werden mit sanftem Druck gezwungen, sich von ihren Konzertritualen zu trennen, die Sinne zu öffnen für Unerwartetes, den Gedanken eine neue Richtung zu geben. „Offenporig“ ist das markante Wort, das Jochen Sandig dafür benutzt.

Die Konzerte sollen kein rein ästhetisches, sondern ein körperliches Erlebnis werden

Wir steigen euch aufs Dach. Die Streicher des Ensembles Kaleidoskop suchen die Sonne des Radialsystems.
Wir steigen euch aufs Dach. Die Streicher des Ensembles Kaleidoskop suchen die Sonne des Radialsystems.

© Sebastian Bolesch

Folkert Uhde bringt es anders auf den Punkt: Der Konzertbesuch soll vom ästhetischen zum physischen Erlebnis werden. Soll – so das neue, vom Soziologen Hartmut Rosa geprägten Modewort – „Resonanzen“ ermöglichen. Und damit auch ein Vorurteil von Klassikverweigerern unterlaufen: dass klassische Musik nichts mit ihnen zu tun hätte, dass sie Freiheitsberaubung sei, wie Jugendliche in Umfragen äußern. Wer nicht in rigide Konzertformate gezwängt wird, wer spürt, was die Musik mit dem Körper macht, der fängt an, umzudenken.

Bei Folkert Uhde begann das schon früh, in den Wehrkirchen seiner friesischen Heimat. Die wurden auf Hügeln errichtet, wo sie vor Sturmfluten sicher waren. Wer ihn erzählen hört, wie er dort Konzerte besuchte, der Wind durch die Fugen pfiff, das Gebälk knirschte, der versteht sofort, dass er seither immer auf der Suche war nach Räumen, die die Einheit wiederherstellen zwischen dem Ort und dem, was man dort hört. Die unseren tollen, aber auch unsinnlichen Konzertsälen etwas entgegensetzen.

Im Radialsystem kann nur auftreten, wer gefördert ist, wer also sein eigenes Geld mitbringt. Das macht die Programmplanung von Juryentscheidungen abhängig. Einen eigenen künstlerischen Etat gibt es nicht, und die so schön abgeranzten Sofas im Foyer stehen dort nicht, weil das in Berliner Cafés die angesagteste  Einrichtungsform ist. 1,8 Millionen Euro müssen jedes Jahr für die Betriebskosten übrig bleiben. Deshalb existiert im Radialsystem eine Parallelwelt aus Konferenzen und Empfängen, die Geld bringen, aber auch Kapazitäten für die Kunst blockieren. Unermüdlich setzen sich Uhde und Sandig beim Senat für eine institutionelle Förderung ein. Zu Beginn gab es Mittel aus der Lottostiftung, seither nichts mehr. Angesichts von zehn erfolgreichen Jahren hoffen sie auf ein Umdenken. Wie würde das den Charakter des Hauses verändern? Immerhin wurde ja die „Koalition der Freien Szene“ im Radialsystem gegründet. „Wir wollen ja keine Vollfinanzierung", erklärt Sandig, „aber wir brauchen langfristig andere Rahmenbedingungen, damit wir Künstlern mehr Zeit zur Verfügung stellen können.“ Als Teil der Freien Szene begreift er sein Haus immer noch. Weil diese Ankerinstitutionen brauche.

Ein Konsens verschwindet: Dass Klassik zwingend dazu gehört

Folkert Uhde erläutert, was ihm am meisten schlaflose Nächte bereitet: „Ein Konsens verschwindet. Nämlich der, dass klassische Musik zwingend zu unserer Kultur gehört.“ Etwas anderes trete an ihre Stelle, eine große Breite von Möglichkeiten, mit aller Kurzatmigkeit des digitalen Zeitalters. Außerdem könnte die massive Entwicklung auf dem Immobilienmarkt negativ auf das Radialsystem zurückschlagen. Der Eigentümer braucht das Haus nur zu verkaufen, was dann? Springt der Senat ein, wird er das Haus dem Markt und damit der Gentrifizierungsspirale entziehen? Auch über ein Stiftungsmodell denkt Jochen Sandig nach. Das Radialsystem muss sich positionieren, in Berlin buhlen auch andere Institutionen wie die Tischlerei der Deutschen Oper ums  gleiche Publikum, und mit der Barenboim-Said-Akademie öffnet demnächst ein völlig neuer Konzertsaal. Sandig und Uhde wollen das Wissen, das sie in zehn Jahren gesammelt haben, weitergeben, ihr Haus ist auch ein Thinktank. Auch deshalb feiern sie das Jubiläum mit einer Konferenz, die natürlich nicht „Konferenz“ heißt, sondern „Forum für Austausch und Inspiration“. Auf dem soll über die Produktionsbedingungen in der Kunst nachgedacht werden, etwa darüber, wie das Neue in die Musik kommt. Oder was mit der Kritik geschieht, ob das Leit-Medium zum Like-Medium zusammenschnurrt. Keine Angst: Eine Party wird es auch geben,  auf der Terrasse am Ufer des Flusses. Den sind übrigens in den vergangenen zehn Jahren exakt 11.352.960.000 Kubikmeter Wasser hinuntergeflossen. Hat Folkert Uhde ausgerechnet.

www.radialsystem.de. Forum „Kultur der Zukunft“ am 5. September, 10-17 Uhr. Party mit DJ Ipek am 9. September, ab 22 Uhr

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