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Die Todeskammer im Gefängnis von Huntsville ist ein karger kleiner Raum.

© REUTERS

Hinrichtungen in den USA: Die Routine des Tötens wird überprüft

Ein Griff an seine Brille - kurz darauf starb der Verurteilte. James Willett kennt die Routine des Todes, 89 Hinrichtungen hat der Texaner beaufsichtigt. Er weiß, sie verlaufen nicht alle nach Plan. Nun wird auch noch das Gift knapp. Und wieder beginnt eine Diskussion um die Todesstrafe.

Als James Willett die Glastür zu seinem Museum am Rande des Städtchens Huntsville aufschließt, trägt er Jeans, einen weißen Haarkranz und eine silberne Brille. Die Sonne scheint und der 65-Jährige lächelt freundlich, als er die Tür zu dem flachen Klinkerbau direkt am Highway aufhält. James Willett sieht nicht aus wie einer, der fast 100 Menschen auf dem Gewissen hat.

In Huntsville, 60 Meilen nördlich von Houston, exekutiert Texas seine Mörder. 30 Jahre lang war Willett Wärter in texanischen Gefängnissen, zuletzt drei Jahre Chefaufseher im Todestrakt. Die Stadt ist so mit der Todesstrafe verbunden, dass es hier sogar ein eigenes Museum gibt. Darin macht sich Willett in seinem Ruhestand nützlich.

Der Texaner kennt die Routine des Todes, er hat sie beaufsichtigt, gepflegt, verfeinert. Er selbst hat das Signal dafür gegeben, dass Mediziner eine tödliche Flüssigkeit in die Venen der Verurteilten strömen ließen. 89 Mal. „Ich habe meine Brille auf der Nase zurechtgerückt“, sagt er. Das war das Zeichen. Er greift mit rechtem Zeigefinger und Daumen an seine Brille und bewegt sie ein wenig. Willett findet nichts Besonderes an der Geste. Für ihn ist sie nur ein Detail seiner Biografie.

Tod nach Terminplan

Amerika ist heute die einzige westliche Demokratie, die anhand präziser Terminpläne Menschen tötet, die mutmaßlich gegen das Gesetz verstoßen haben. In einem Land, dem der Schutz des ungeborenen Lebens heilig ist, stören sich 60 Prozent der Bevölkerung nicht an der Hinrichtung von Menschen. Die Umfragewerte sind seit Jahrzehnten relativ konstant, obwohl mittlerweile unumstritten ist, dass in US-Gefängnissen viele Unschuldige sitzen und dass Menschen auf Grundlage falscher Beweise exekutiert wurden, wie der jüngste Skandal um fehlerhafte Haaranalysen des FBI belegt.

Unter einem Papierstapel auf Willetts Schreibtisch in dem kleinen Hinterzimmer des Museums liegt „The Innocent Man“, der Roman von John Grisham, der von einem zu Unrecht verurteilten Todeskandidaten handelt. Jemand hat ihm das Buch kürzlich gegeben. Aber Willett tut sich schwer, Interesse dafür aufzubringen. Er hat das Buch noch nicht wieder angefasst. Die Frage, ob er Unschuldige in den Tod geschickt haben könnte, hat Willett stets von sich gehalten. Das zu entscheiden, war nicht sein Job, sagt er.

James Willett vor dem elektrischen Stuhl im Museum.
James Willett vor dem elektrischen Stuhl im Museum.

© Barbara Junge

Kein amtierender US-Präsident wagt es, ernsthaft die Abschaffung der Todesstrafe zu fordern, die derzeit in 32 der 50 Staaten zulässig ist. Kein US-Bundesstaat lässt so viele Menschen hinrichten wie Texas. 524 Menschen wurden dort seit 1982 mit einer Giftspritze getötet. Mit großem Abstand folgt dahinter Oklahoma mit 112 Exekutionen. Im Januar erwarteten in den Vereinigten Staaten noch 3000 Menschen ihre Hinrichtung.

Immer wieder schwere Pannen

Doch die Henker haben ein Problem, ihnen geht das Gift aus. Europäische Pharmafirmen dürfen seit 2011 keine Medikamente mehr liefern, die zu Tötungszwecken eingesetzt werden können. Auch die US-Pharmavereinigung „American Pharmacists Association“ hat ihre Mitglieder aufgefordert, sich dem Bann anzuschließen. Was bleibt, ist der Rückgriff auf kleine Firmen und Apotheker, die unter der Bedingung der Anonymität bereit sind, vergleichbare Giftcocktails zu mischen. Fast vergleichbare, wie man inzwischen weiß. Denn sie führen immer wieder zu schweren Pannen, die Amerikas Umgang mit der Todesstrafe nun nachhaltig verändern könnten. Pannen wie im Falle Clayton Lockett in Oklahoma.

Am 29. April vergangenen Jahres lag der verurteilte Mörder und Vergewaltiger Lockett angeschnallt auf jener Liege, auf der er sterben sollte. Um 18 Uhr 23 injizierte ihm ein Gefängnisarzt das Betäubungsmittel Midazolam. Um 18 Uhr 33 wurde er für bewusstlos erklärt. Was dann folgte, beschreiben Augenzeugen als kaum aushaltbares Menschenexperiment: Lockett murmelte, hob den Kopf und wand sich in den Gurten. Es war, als ob Schockwellen seinen Körper durchliefen. Einige Zuschauer hatten den Eindruck, er erlitte eine Herzattacke. Erst um 19 Uhr 06, nach 43 Minuten furchtbarer Qualen, war Lockett tot. Das „Death Penalty Information Center“ hat den Ablauf dokumentiert.

Die Medikamente seien nicht vollständig in den Körper gelangt, eine Vene sei explodiert oder kollabiert, versuchten die Verantwortlichen zu erklären. Dass dies nicht die erste Exekution war, bei der der Einsatz neuer Betäubungsmittel zu schweren Komplikationen geführt hat, erwähnten sie nicht.

Er sprach letzte Worte, bekam die Injektion. Doch nichts passierte

Die Todeskammer im Gefängnis von Huntsville ist ein karger kleiner Raum.
Die Todeskammer im Gefängnis von Huntsville ist ein karger kleiner Raum.

© REUTERS

„Es ist ein Experiment am Menschen“, sagt auch die wissenschaftliche Eminenz in Sachen Todesstrafe, Deborah Denno von der Fordham Law School in New York. Die Drogen seien schließlich als Beruhigungsmittel und nicht dazu entwickelt worden, um Menschen zu töten. „Und die Leute im Gefängnis haben keine Ahnung, wie die Drogen wirken.“ Diese Art der Hinrichtung sei unethisch und verstoße ziemlich sicher gegen das in der Verfassung festgeschriebene Verbot grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung. „Seit Jahren schlachten wir die Leute.“

Vier Verurteilte aus Oklahoma haben nach Locketts Tod den Supreme Court angerufen. Sie klagten gegen ihre geplanten Hinrichtungen durch die Giftspritze. Ende April haben die obersten Richter bereits beide Seiten, Kläger und Beklagte, angehört. Unmissverständlich sprachen konservative Richter für den Staat Oklahoma, liberale nahmen die Position der Verurteilten ein. Ihre Entscheidung wird in den nächsten Wochen erwartet.

Doch zur Debatte steht in Washington nicht nur die pharmazeutische Fähigkeit der Giftmischer von Oklahoma. Wie human ist der Tod aus der Spritze wirklich? Kann die Todesstrafe noch mit dem Selbstbild der Führungsmacht der freien Welt vereinbar sein? Das Urteil könnte richtungsweisend sein.

Geschichten vom Tod

James Willett ist etwa zehn bis fünfzehn Stunden in der Woche in seinem Museum. Er führt Besucher durch den großen, mit Trennwänden aufgeteilten Saal, vorbei an ausgestellten Spritzen und Schläuchen in Schaukästen. Auch eine Seilschlinge für den Tod durch Erhängen ist hier zu sehen. Kaum einer kann mehr erzählen über den Tod hinter Gefängnismauern als Willett. Er hat Buch geführt über fast alle seiner 89 Fälle. Manchmal fällt es ihm schwer, sich an jedes Gesicht zu erinnern. Er schaut dann in seinem Tagebuch nach, in dem die Namen verzeichnet sind. „Wenn man mich fragt, dann weiß ich es auch wieder“, sagt er, lächelt und dreht sich mit seinem Schreibtischstuhl hin und her, als hätte man ihn einer Schwäche überführt. Den Fall Clayton Lockett hat Willett nur aus der Ferne verfolgt. Aber er weiß, dass Hinrichtungen nicht immer so sauber laufen wie gewünscht. Dafür muss er nur in sein Buch schauen. Eintrag Nummer 1: Joseph Cannon, 22. April 1998.

Joseph Cannon, Gefangenennummer 634, starb an einem Mittwoch. Ein Gericht hatte den Termin festgelegt. Kurz nach 13 Uhr wurde er aus einem anderen Gefängnis nach Huntsville gebracht. Willett besuchte ihn gleich zur Vorbereitung für den Abend, um den Ablauf mit ihm zu besprechen. Gegen 16 Uhr ließ er dem Häftling eine letzte Mahlzeit nach Wunsch servieren: gebratenes Hühnchen, Schweinerippen, eine gebackene Kartoffel, Salat mit Italian Dressing, einen Schokokuchen, Schokoeis und einen Schoko-Shake. So ist es fein säuberlich in Willetts Tagebuch festgehalten. Um Punkt 18 Uhr kam er wieder in die Zelle und sagte einen Satz, den er über die Jahre immer wieder sagen sollte. Ein Satz, von seinen Vorgängern übernommen, der den bevorstehenden Tod weniger emotional erscheinen lassen soll: „ Es ist Zeit für Sie, mit mir in den nächsten Raum zu kommen.“

Ein kleines, karges Zimmer

Der nächste Raum ist ein kleines, karges Zimmer hinter einer grünen Tür, wo, wie Willett sagt, „die Männer die Geister fühlen können“. Die meisten Häftlinge kommen ohne Widerstand mit. Die anderen, Willett erinnert sich, in seiner Zeit seien es nur drei gewesen, ließ er in Hand- und Fußschellen legen und hineintragen. Dann kommen die Männer vom Knebelteam, sie schnallen den Gefangenen mit Gurten auf einer Liege fest, die mitten im Raum steht. Mediziner legen dem Verurteilten einen Tropf, wenig später stirbt er. Schnell und schmerzlos. So die Theorie.

Die Exekution von Cannon verlief nicht nach dieser Theorie. Cannon hatte seine letzten Worte gesagt, relativ unzusammenhängend, so hat es Willett sich notiert. Willett hatte sein Zeichen gegeben. Und dann passierte – nichts. Bis der Verurteilte sagte: „Sie ist rausgefallen.“ Die Nadel hatte sich gelöst, die tödliche Flüssigkeit lief auf den Boden. Hinter Glasscheiben standen die Familie des Mörders und die Familie des Opfers, getrennt in zwei Räumen, und sahen zu. Sie wurden rasch aus den Räumen geleitet. Der Gefangene musste ein zweites Mal durch die Prozedur, ein zweites Mal letzte Worte sprechen, ein zweites Mal sahen die Familien zu. Um 19 Uhr 28 war er tot.

James Willett ist gläubiger Christ. Die zehn Gebote sind für ihn mehr als nur Sonntagsreden. Probleme, seine Arbeit im Todestrakt mit dem fünften Gebot in Einklang zu bringen, hatte er jedoch nicht. „Du sollst nicht töten.“ Willett zögert nur kurz, wenn er damit konfrontiert wird. Dann kontert er mit einem anderen Bibelspruch, Genesis 9, Vers 6: „Derselbe Gott, der uns die zehn Gebote gegeben hat, ist auch der, der gesagt hat: Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch vergossen werden.“

Seine Kinder wussten, was er tut. Geredet haben sie darüber nie

Die Todeskammer im Gefängnis von Huntsville ist ein karger kleiner Raum.
Die Todeskammer im Gefängnis von Huntsville ist ein karger kleiner Raum.

© REUTERS

Willett ist kein Mensch ohne Gewissen, nicht einmal ein aggressiver Befürworter der Todesstrafe. Dafür hat er zu viele sterben sehen. Aber es gebe nun einmal Menschen, die furchtbare Verbrechen begingen, Fälle, „in denen niemand ein Problem hat, wenn so jemand sterben muss“.

Wie kann man das Zeichen dafür geben, dass ein Mensch getötet wird und dann nach Hause kommen und mit den Kindern spielen? Was muss das für die bedeuten? Und was fragen die Freunde bei einer Party? Na, wen hast du diese Woche ins Jenseits befördert?

James Willetts Kinder Jacob und Jordan haben gewusst, was ihr Vater tat, aber er selbst hat mit ihnen nie darüber gesprochen. Bis heute nicht. Bevor er nach einer Exekution nach Hause ging, hat er sich meist noch an den Schreibtisch gesetzt und alles in sein Buch eingetragen. Dort hat er es dann auch gelassen.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Gerichte mit der Todesstrafe beschäftigen. Von 1967 bis 1976 hatte der Supreme Court schon einmal sämtliche Hinrichtungen bundesweit gestoppt. Todesurteile hatten sich als oft willkürlich erwiesen. Aber das Moratorium lief 1976 aus, nachdem viele Bundesstaaten ihre Gesetze geändert hatten. 1407 Menschen wurden seitdem in den Vereinigten Staaten hingerichtet.

Suche nach Alternativen

Neu aber ist die Frage nach dem Gift. Texas hat bis in den Juni hinein Hinrichtungen angesetzt. Die dafür nötigen Drogen hat das Justizministerium allerdings bislang nicht auftreiben können. Man suche intensiv nach Alternativen zu den bisherigen Lieferanten. Von Jahr zu Jahr werde es schwieriger, das nötige Mittel zu bekommen, sagt Jason Clark, Sprecher der Justiz in Huntsville und professioneller Hinrichtungszeuge. Seit zehn Jahren beobachtet er für die texanische Justiz jede einzelne Hinrichtung, mehr als 120 hat er schon gesehen. Er macht das, damit es einen amtlichen Zeugen gibt. Dass das fehlende Gift ein Problem ist, weiß er. „Aber wir sind hoffnungsvoll, die Mittel zu erhalten.“ Clark sitzt auf einer Parkbank vor dem „Huntsville Unit“, dem Gefängnis in der Stadt. Der Todestrakt ist keine 200 Meter entfernt, hinter einer dicken Mauer. Clark stammt aus der Gegend. „Als ich den Job angenommen habe, wusste ich, dass das dazugehört“, sagt er. Da war er gerade mal Mitte 20. Natürlich berühre ihn das Ganze. „Aber ich sehe die Opferfamilien. Ich weiß dann, es waren die Taten des Verurteilten, die ihn hierhergebracht haben.“ Die Todesstrafe ist nichts, was hier groß hinterfragt wird. „Wir sind hier um Gerichtsanweisungen auszuführen.“ Es ist ein Job.

Rückkehr zum Erschießungskommando

Wegen des Lieferengpasses denken einige Staaten derzeit über andere Hinrichtungsmethoden nach. Oklahoma hat den Tod durch Vergasen mit Stickstoff erlaubt, sollte Gift nicht zur Hand sein. Utah entschied sich im Zweifelsfall für die Rückkehr zum Erschießungskommando. Sogar die Wiederaufstellung des elektrischen Stuhls, der bis in die 1960er Jahre eingesetzt wurde, ist kein Tabu. In Tennessee darf er wieder benutzt werden.

In James Willetts Museum steht noch ein Exemplar. Jener Holzstuhl, auf dem in Huntsville zwischen 1924 und 1964 exakt 361 Häftlinge starben. „Old Sparky“ nennen sie ihn. Vom Wort „spark“, Funke. Willett betrachtet den Stuhl als das Juwel seiner Ausstellung. Insassen haben ihn einst angefertigt. Er ist aus mittelbraunem Holz mit dunkelbraunen Lederriemen, um die Füße, die Arme und den Kopf festzuschnallen. Der Stuhl hat etwas Magisches und Furchtbares zugleich, sagt Willett und verschränkt die Arme vor dem Körper. Von dieser Weise, Menschen zu exekutieren, grenzt er sich ab. Die Injektionen dagegen hätten etwas Medizinisches, Reines.

Für Charles Warner kommt jede Diskussion über das Für und Wider verschiedener Hinrichtungsmethoden zu spät. Warner, der 1997 ein elf Monate altes Mädchen vergewaltigt und getötet hatte, war einer der vier Verurteilten aus Oklahoma, die nach der verunglückten Hinrichtung von Clayton Lockett gegen ihre eigene geklagt hatten. Ende April verfolgten nun drei der Kläger die Debatte nervös. Der vierte, Charles Warner, nicht. Fünf konservative Richter hatten seine Klage zwar angenommen, eine Aufschiebung seiner Exekution aber abgewiesen. Warner war bereits am 15. Januar hingerichtet worden.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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