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Gesund leben: Neue Tat - Neues Hirn

Das Netzwerk unseres Gehirns ist in ständiger Veränderung. Ob Lesen, Rechnen oder Klavierspielen – wenn wir etwas Neues lernen, hinterlässt das Spuren in den Neuronenverbindungen.

Sehr belastbar und flexibel; exzellent strukturiert und organisiert; offen für Neues und stets bereit, dazuzulernen; äußerst versiert darin, bestehende Netzwerke zu nutzen und neue zu etablieren. – Was klingt wie das Anforderungsprofil in einer Stellenausschreibung, ist tatsächlich: eine Zustandsbeschreibung des menschlichen Gehirns. Dieses hochkomplexe Organ im Kopf, das zwar nur rund zwei Prozent des Gewichts eines Menschen ausmacht, aber dennoch rund 20 Prozent der aufgenommen Energie für sich beansprucht, vereint in sich tatsächlich all diese Tugenden, die seit Jahren auf dem Arbeitsmarkt so stark nachgefragt sind: Es ist spezialisiert, aber dennoch nicht festgefahren; es behält den Überblick, kümmert sich aber auch um die Details; es ist innovativ und scheut sich nicht, auf der Suche nach dem besten Verfahren Fehler zu machen – um aus ihnen zu lernen. Wie es all das bewerkstelligt, ist noch nicht endgültig geklärt. Auch an einer abschließenden Antwort auf die Frage, was genau im Kopf eines Menschen passiert, der sich etwas Neues aneignet – sei es Schreiben, Autofahren oder das Bedienen eines Smartphones –, arbeitet die Wissenschaft noch immer. »Hier gibt es noch kein allgemeingültiges Konzept«, sagt Arno Villringer, Direktor der Abteilung Neurologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Dennoch sei einiges von dem, was beim Lernen im menschlichen Kopf abläuft, mittlerweile bekannt.

"Das Gehirn versucht immer vorherzusehen, was passiert ." Arno Villringer ist Direktor der Abteilung Neurologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Darüber hinaus hat er eine Honorarprofessur an der Klinik für Neurologie an der Charité.
"Das Gehirn versucht immer vorherzusehen, was passiert ." Arno Villringer ist Direktor der Abteilung Neurologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Darüber hinaus hat er eine Honorarprofessur an der Klinik für Neurologie an der Charité.

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Eine Erkenntnis, die die Wissenschaftler machen konnten: Die philosophische Formel »Panta rhei« (altgriechisch für »alles fließt«), die Heraklit (520–460 v. Chr.) auch in die Formulierung fasste, man könne »nicht zweimal in denselben Fluss steigen«, gilt genauso auch für das Gehirn – nur dass die Forscher dies in der heutigen Wissenschaftssprache Englisch ausdrücken: »You never use the same brain twice« (»Du nutzt nie zweimal dasselbe Gehirn«). »Das Gehirn verändert sich bei allem, was es tut«, sagt Villringer. »Sind zwei Gehirnzellen hintereinander aktiv, verändern sie dadurch sich selbst und auch die Verbindung zwischeneinander.« Der Grund dafür sei, dass sich das Gehirn allem, was es tue, anpasse. Es reagiere also sehr flexibel auf die Reize, Signale und Rückmeldungen, die es erhält.
Besonders groß ist diese Anpassungsleistung, so eine weitere Erkenntnis der Wissenschaftler, wenn etwas Neues, etwas Unerwartetes passiert. »Das Gehirn hat immer eine bestimmte Vorstellung von dem, was es umgibt«, sagt Villringer. »Davon ausgehend versucht es vorherzusehen, was als Nächstes geschieht, um adäquat darauf reagieren zu können.« Diese Angewohnheit des Organs wird auch als »predictive coding« (Vorhersage-Codierung) bezeichnet. Da es sich bei den Dingen, die wir erst lernen, jedoch naturgemäß um neue Sachverhalte handelt, tritt die Vorhersage des Gehirns in diesen Fällen nicht ein – es kommt zu einem sogenannten »prediction error« (Vorhersage-Fehler). Diesen versucht das Gehirn in der Folge auszumerzen – indem es sich den neuen Gegebenheiten und Eindrücken anpasst. »Stellen Sie sich vor, Sie möchten Klavier spielen lernen«, sagt Villringer. »Am Anfang sind Ihnen die dafür nötigen Schritte völlig unbekannt, Sie haben keine Ahnung, was passiert, wenn Sie auf eine Taste drücken. Im ersten Moment stellt ein Ton daher einen prediction error dar. Doch mit der Zeit und nach einigen Wiederholungen weiß das Gehirn nicht nur, dass hinter den Tasten Töne stecken – sondern auch welche: Es hat gelernt.«

Dieser Lernvorgang läuft in mehreren Phasen ab. Das ist eine dritte Erkenntnis, die die Wissenschaft heute hat. Die einzelnen Phasen wiederum spielen sich in verschiedenen der etlichen Untereinheiten des Gehirns ab, je nachdem, was gelernt werden muss und wie weit dieser Vorgang schon fortgeschritten ist. Unabhängig davon, ob es ums Sprechen, Stricken oder das Steuern eines Space Shuttles geht, ist der grobe Ablauf des Lernprozesses im Gehirn immer gleich: »Anfangs geschieht alles sehr bewusst, muss jede Bewegung aktiv gesteuert werden«, sagt Villringer. Mit steigender Anzahl an Wiederholungen sinke dann aber langsam das Ausmaß an Konzentration, das benötigt wird: Ein Vorgang laufe dann nur noch halb bewusst ab. Ist man dann erst durch weitere Übung zum Meister geworden, muss ein Programm dann nur noch angestoßen werden – das Gelernte selbst läuft danach mehr oder minder automatisch ab.
Beim Beispiel des angehenden Klaviervirtuosen bedeutet das: Anfangs muss er sich noch ganz genau überlegen, welche Tasten wie und in welcher Reihenfolge angeschlagen werden sollen. Die einzelnen Bewegungen werden dazu bewusst über die sogenannte primär-motorische Rinde angesteuert. »Je häufiger eine bestimmte Passage wiederholt wird, desto zügiger und fehlerfreier gelingt dies«, sagt Villringer. In dieser Phase bilden sich immer stärkere Verbindungen zwischen der primär- und der sogenannten prämotorische Rinde heraus; die einzelnen Fingerbewegungen laufen immer weniger bewusst ab. Primär- und prämotorische Rinde sind zwei Areale im Stirnlappen (Frontallappen) des Gehirns. Sie bilden zusammen den Motorcortex, der Bewegungen steuert und kontrolliert – und sich entsprechend verändert, wenn er etwas Neues lernt. Beim motorischen Lernen wie dem Klavierspielen seien diese Veränderungen nach weiteren Wochen oder Monaten intensiven Übens dann meist abgeschlossen, der Vorgang »Klavierspielen« dann wie ein Programm fest in den beiden Arealen gespeichert. Es scheint, als würde dann der präfrontale Cortex, der sich ebenfalls im Frontallappen befindet, die Kontrolle übernehmen. Er sorgt dafür, dass Handlungen situationsgerecht ausgeführt werden. Vereinfacht bedeutet das: Der präfrontale Cortex registriert, dass der Klavierspieler vor seinem Instrument sitzt – und löst das Programm »Klavierspielen« aus. Dieses läuft dann völlig automatisch ab. Aber trotzdem können nicht alle Menschen perfekt Klavier spielen, selbst dann, wenn sie es richtig lernen. Auch das Talent und Interessen spielen eine Rolle dabei, wie gut wir Fertigkeiten beherrschen (siehe Interview Seite 14).
Die Fähigkeit des Gehirns, flexibel auf seine Umwelt zu reagieren, sich veränderten Gegebenheiten anzupassen und zu lernen, wird auch als neuronale Plastizität bezeichnet: Die Verbindungen zwischen den einzelnen Gehirnzellen und damit die Strukturen insgesamt sind nicht starr und fix, sondern können abhängig von den Erfordernissen umgebaut werde. »Diese Fähigkeit bleibt uns ein Leben lang erhalten, auch im Alter«, sagt Neurologe Villringer.
Die Baumaßnahmen im Gehirn lassen sich mithilfe von Kernspin- beziehungsweise Magnetresonanztomografen (MRT) beobachten. »In der Darstellung der Hirnstruktur werden beim Lernen über die Zeit bestimmte Bereiche größer und dichter«, sagt Villringer. Allerdings sei es nicht so – wie früher angenommen –, dass immer nur einzelne Hirnbereiche für bestimmte Aufgaben zuständig seien: Insbesondere komplexe Funktionen verliefen vielmehr über Netzwerke verschiedener Areale. Beobachten lässt sich das laut Villringer, indem man die funktionelle Konnektivität des Gehirns in einem Kernspin misst. Dabei wird die Aktivität der Hirnareale gemessen – und wie diese in einzelnen Verbindungsnetzwerken zusammenhängt. »Beim Lernen verändert sich diese Konnektivität«, sagt Villringer: »Es entstehen neue oder effektivere Verbindungen.«

Dabei geht das Gehirn allerdings nicht unbedingt planvoll und zielgerichtet vor, sondern eher nach dem Versuchsprinzip: Bei Experimenten mit Mäusen ließ sich laut Villringer beobachten, dass beim Lernen eine Vielzahl neuer Verbindungen in den Mäusehirnen ausspross – viel mehr, als eigentlich nötig gewesen wären und hinterher von den Tieren auch genutzt wurden. »Das Gehirn scheint also verschiedene Möglichkeiten zu testen«, sagt Villringer. »Nutzlose gehen dann wieder zugrunde. Nur was effizient ist und gebraucht wird, bleibt.«
Auch wenn die Umbauarbeiten und Streckentests im Gehirn ein ganzes Leben lang anhalten, so lernt man trotzdem nicht immer alles gleich gut. Experten gehen davon aus, dass es bestimmte Lebensabschnitte gibt, die für bestimmte Lerninhalte besonders gut geeignet sind: die kritsichen Perioden. Warum das so ist, ist noch nicht geklärt. Doch es lässt sich beispielsweise beim Bindungsverhalten, beim räumlichen Sehen und – für die meisten wohl am deutlichsten spürbar – beim Sprachlernen beobachten. »Bis zum zehnten Lebensjahr lernen Kinder Sprachen sehr schnell, fast spielerisch«, sagt Villringer. Danach werde es deutlich schwerer. Unmöglich werde es aber nicht. Hans kann Hänschens Lernversäumnisse also durchaus nachholen – er braucht dann nur eben sehr viel länger dazu und muss sich mehr anstrengen.

Aufgrund der neuronalen Plastizität und Netzwerkstruktur ist das Gehirn zudem in der Lage, Schädigungen zum Beispiel durch einen Schlaganfall auszugleichen – zumindest in einem gewissen Rahmen. »Auch hier passt sich das Gehirn an und die Netzwerke organisieren sich um«, sagt Villringer. Falle ein Bereich aus, würden die benachbarten Hirnregionen und Netzwerke versuchen, dessen Funktion zu übernehmen. Ist eine Verletzung zu groß, funktioniert dies allerdings nicht mehr oder nur noch eingeschränkt, sodass beispielsweise viele Schlaganfallpatienten in einigen Bereichen wieder Fortschritte machen, andere aber dauerhaft geschädigt bleiben.
»Derzeit wird jedoch intensiv an Möglichkeiten geforscht, das Gehirn von Schlaganfallpatienten beim Umbau und Wieder-Lernen zu unterstützen«, sagt Villringer, der auch eine Honorarprofessur an der Klinik für Neurologie an der Charité innehat. So könne man beispielsweise betroffene Hirnregionen von außen elektromagnetisch stimulieren. Auch das Lernen an sportliche Aktivität zu koppeln, könne helfen, und schließlich Medikamente, die das Belohnungszentrum aktivieren. Denn Lernen sei vor allem dann besonders effektiv, wenn Fortschritte belohnt werden – durch positives Feedback von außen oder eben durch die Ausschüttung des körpereigenen Botenstoffs Dopamin.
Unabhängig davon, ob das Hirn geschädigt ist oder kerngesund, gilt jedoch: Irgendwann ist Schluss. »Das Gehirn kann nicht unendlich wachsen«, sagt Villringer. Und auch seine Fähigkeit, etliche gut ausgebaute effektive Netzwerke nebeneinander zu unterhalten, ist begrenzt. »Es scheint hier immer eine Art dynamisches Gleichgewicht zu herrschen«, sagt Villringer. Das bedeutet: Ist ein Bereich besonders groß und gut ausgebildet, ist ein anderer dafür kleiner. Und werden bestimmte Netzwerke besonders stark genutzt und optimiert, werden andere dafür schwächer. Sich vollständig auflösen tun sie aber eher nicht, einmal Gelerntes kann reaktiviert werden. Wie das sprichwörtliche Fahrradfahren – das verlernt man ja auch nicht.

Das Magazin für Medizin und Gesundheit in Berlin: "Tagesspiegel Gesund - Berlins Ärzte für Gehirn und Nerven".

Weitere Themen der Ausgabe: Faktencheck. Spannende Infos über das Gehirn. Was ist Intelligenz? Über Alltagskompetenz, Situationsschläue und Persönlichkeitsmerkmale. Spielend schlau bleiben. Hellwach bis ins hohe Alter. Intelligenz lernen. 60 Prozent des menschlichen IQs bestimmen die Gene - den Rest müssen wir von Kind auf lernen. Stromlinien. Mit der Elektroenzephalografie machen Neurologen Hirnströme sichtbar - doch was bedeuten die Kurven? Das Stroke-Einsatz-Mobil. Schnelle Hilfe beim Schlaganfall: Ein Krankenhaus auf vier Rädern. Arztbrief. Wie man Schlaganfälle erkennt und therapiert. Reha nach Schlaganfall. Nach einem Hirninfarkt muss sich das Denkorgan neu organisieren. Langzeit-Reha. Den Alltag wieder lernen. Signalstörung. Zittern, Krämpfe, Muskelstarre lindern - wie Hirnschrittmacher gegen Parkinson helfen. Vorbote Schlafstörung. Eine REM-Schlafverhaltensstörung deutet auf Parkinson hin - und eröffnet Medizinern neue Therapieansätze. Auf eigenen Beinen. Multiple Sklerose muss nicht im Rollstuhl enden. BSE Ade? Gefahr begannt? was ist eigentlich aus der Rinderwahn-Epidemie geworden? Gewitter im Gehirn. Was bei Epilepsie hilft. Rasende Schmerzen. Ein Clusterkopfschmerz-Patient berichtet über ratlose Ärzte und verständislose Mitmenschen. Kater - ohne Alkohol. Woher die Migräne-Attacken kommen und was gegen den Kopfschmerz hilft. Kleine Blutsauger. Zecken sind auf dem Vormarsch - und übertragen gefährliche Erreger. Borreliose und FSME. Wie man die Zeckenkrankheiten erkennt und therapiert. Außerdem: Kliniken und Rehazentren im Vergleich. "Tagesspiegel Gesund" - Jetzt bei uns im Shop

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