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Tradition vs. Kulturerbe: Ist das Kultur oder kann das weg?

27 deutsche Traditionen gehören zum immateriellen Kulturerbe. Der Vorsitzende der Expertenkommission Christoph Wulf erklärt, was dazugehört und was nicht.

Bräuche und Traditionen sichtbar machen und erhalten – das ist Ziel einer Konvention zum immateriellen Kulturerbe der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO). In Deutschland wurden jetzt erstmals 27 Traditionen und Wissensformen in ein Kulturerbe-Verzeichnis aufgenommen, darunter die deutsche Brotkultur und der rheinische Karneval. „Mit dem Verzeichnis wollen wir ein Bewusstsein für die Vielfalt kultureller Bräuche und Traditionen schaffen“, sagt der Anthropologe und Erziehungswissenschaftler Professor Christoph Wulf von der Freien Universität Berlin. Er ist Vorsitzender der unabhängigen Expertenkommission, die insgesamt 83 Vorschläge begutachtete.

Was gehört zur deutschen Populärkultur? Nach dem neuen bundesdeutschen Verzeichnis zum immateriellen Kulturerbe beispielsweise das Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung, die Passionsspiele Oberammergau oder die Morsetelegrafie. Auch das Singen in deutschen Amateurchören hat einen Listenplatz bekommen. „Fast eineinhalb Millionen Deutsche singen regelmäßig in mehr als 10 000 Chören“, sagt Christoph Wulf. Das Chor-Singen zeige sehr deutlich, wie eine Tradition in Deutschland auf regionaler, lokaler und bundesweiter Ebene von vielen Menschen praktiziert und weitergereicht werde. Bis jetzt war deutsches Kulturerbe vor allem in Stein gemeißelt: Die Berliner Museumsinsel, der Kölner Dom oder das Opernhaus in Bayreuth sind drei von weltweit annähernd 1000 außergewöhnlichen Bauten, die von der UNESCO als Weltkulturdenkmäler präsentiert werden.

Um auch traditionelles und kulturelles Wissen und Können zu schützen, hat die UNESCO 2003 ein Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes verabschiedet. „Ausgangspunkt für das Abkommen war der Gedanke, Kulturgut auch in Ländern zu schützen, die keine materiellen Kunstwerke wie das Taj Mahal oder den Kölner Dom haben“, erklärt Christoph Wulf. Was als immaterielles Kulturerbe bezeichnet wird, ist in den Konventionen der UNESCO festgelegt. „Es geht um gelebte Praktiken, die innerhalb einer Gemeinschaft weitergegeben und gepflegt werden“, erläutert der Anthropologieprofessor.

Die Konvention unterscheidet fünf Bereiche: Mündlich überlieferte Traditionen wie Gesänge, Märchenerzählungen oder Redensarten, darstellende Künste wie Musik oder Tanz, Bräuche, Rituale und Feste, Wissen über Natur und den Kosmos sowie traditionelle Handwerkstechniken wie der Orgelbau oder das Köhlerhandwerk. „Dass wir aus all diesen Bereichen Vorschläge erhalten haben, zeigt, wie vielfältig die Kultur in Deutschland ist“, sagt Wulf. Das Verzeichnis wird jedes Jahr ergänzt.

Für einen Platz auf der internationalen Liste des immateriellen Weltkulturerbes nominierte die Kultusministerkonferenz die Genossenschaftsidee. Wulf sieht gute Chancen, dass die UNESCO die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation in das internationale Verzeichnis aufnimmt. „Genossenschaften verbinden die Bereiche Wirtschaft, Kultur und Soziales miteinander. 21 Millionen Deutsche gehören einer Genossenschaft an, weltweit sind es sogar 800 Millionen Menschen.“

In vielen Lebensbereichen, ob Arbeit, Wohnen oder Finanzen spielten Genossenschaften in Deutschland eine Rolle. Das Kooperationsmodell hat hierzulande eine mehr als hundertjährige Tradition. Erst im vergangenen Jahr hat Deutschland die UNESCO-Konvention ratifiziert – viel später als zahlreiche andere Länder. Warum sich Deutschland lange Zeit so schwer damit tat, Bräuche und Traditionen besonders wertzuschätzen, liege unter anderem in der deutschen Vergangenheit begründet, sagt Wulf: „Im Nationalsozialismus wurden Brauchtümer, kulturelle Feste oder Tänze für die politische Idee missbraucht und instrumentalisiert.“ In der Aufarbeitung dieser Brüche der deutschen Kulturgeschichte liege aber auch eine Chance: „Deutschland kann im Rahmen der internationalen Debatte seine vielfältigen Formen des kulturellen Erbes neu entdecken.“ Um heute Missbrauch etwa durch nationalistische Kräfte zu verhindern, legt die Konvention genau fest, dass die ausgewählten Praktiken in ihrer Ausübung jedem Menschen zugänglich sein und mit den internationalen Menschenrechten in Einklang stehen müssen.

Welche Auswirkung aber hat die Aufnahme in die Kulturerbe-Liste auf die ausgezeichneten Traditionen? Vor allem drücke die Liste die Anerkennung einer lebendigen Populärkultur aus, im Sinne einer in der Bevölkerung verbreiteten Lebensart, sagt Christoph Wulf: „Die Traditionen werden sichtbar und ihre Bedeutung offiziell anerkannt.“ Es gehe nicht darum, Traditionen oder Praktiken zu bewerten, sagt der Wissenschaftler. „Wir wünschen uns, dass die Wertschätzung dieser Praktiken im Allgemeinen steigt und eine Diskussion darüber in Gang kommt, was eine lebendige deutsche Kultur ausmacht.“

Im Internet

www.unesco.de/ua50-2014

Annika Middeldorf

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