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Karl Muck wurde 1906 vom deutschen Kaiser Wilhelm II. für einen einjährigen Aufenthalt in die USA geschickt und entschied sich, dort zu bleiben.

© BSO Archives

Dirigent Karl Muck in Amerika: Transatlantische Disharmonien

Geschichtsprofessorin Jessica Gienow-Hecht untersucht, weshalb der deutsche Dirigent Karl Muck 1917 in den USA in Ungnade fiel.

Als Karl Muck, der umjubelte deutsche Dirigent des Boston Symphony Orchestra, am 30. Oktober 1917 ein Gastspiel in Rhode Island gibt, weiß er noch nicht, dass dies sein Ruin sein wird. Fast auf den Tag genau vor 100 Jahren, sechs Monate nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg und der Kriegserklärung an das Deutsche Reich, glaubt Muck noch immer, dass die Politik seiner hehren Kunst nichts anhaben kann, dass die deutsche Musik in Sphären klingt, in denen ein Weltkrieg sie nicht tangiert. Wagners Tannhäuser und die Egmont-Ouvertüre von Beethoven stehen auf dem Programm, und der Abend verläuft zunächst ohne Zwischenfälle.

Muck, 1859 in Darmstadt geboren und seit 1906 einer der zahlreichen deutschen Dirigenten in Amerika, wo man gar nicht genug kriegen kann von der deutschen klassischen Musik, weiß nicht, dass eine lokale Tageszeitung verlangt hatte, er, der Lieblingsdirigent des deutschen Kaisers, solle zu Beginn seines Programms die amerikanische Nationalhymne intonieren.

Die Orchesterleitung weist die Forderung zurück, ohne Muck zu fragen. Eine Pressekampagne des Providence Journal folgt auf dem Fuß. Sie stellt dem deutschen „Militaristen“ Muck, der sich freiwillig zum Kriegsdienst für das Deutsche Reich gemeldet hatte, friedliebende amerikanische Mütter entgegen, die ihn vergeblich um das „Star-Spangled Banner“, Amerikas Hymne, gebeten hätten.

Dem Dirigenten wird vorgeworfen, er verstecke Geheimcodes in Noten

Muck besiegelt sein Schicksal, als er wenig später in einem Interview sagt, er habe von dem Begehren zwar nichts gewusst, aber es sei ein grober Fehler, von einem Symphonieorchester wie dem seinen zu verlangen, patriotische Hymnen zu spielen. Man sei schließlich keine Militärkapelle. Kunst, so Muck, erhebe sich über nationale Belange, und seine Pflicht sei es, die exquisitesten musikalischen Kunstwerke darzubieten, zu denen das „Star-Spangled Banner“ nicht gehöre.

Die Kampagne gegen ihn eskaliert daraufhin. Am Ende wird der gefeierte Dirigent zum enemy alien erklärt, zum feindlichen Ausländer, und man beschuldigt ihn, ein deutscher Spion zu sein, der in Orchesterpartituren geheime Codes verstecke. Am 25. März 1918, dem Vorabend einer geplanten Aufführung der Matthäus-Passion von Bach, wird Muck verhaftet und bis August 1919 in einem Internierungslager inhaftiert.

Jessica Gienow-Hecht, Professorin für Geschichte an der Freien Universität, hat die Affäre Muck in ihrem Buch „Sound Diplomacy. Music, Emotions, and Politics in Transatlantic Relations since 1850“ aufgearbeitet. Darin ist Mucks Fall ein dramatischer, aber nur kleiner Teil eines viel weiteren Panoramas des transatlantischen kulturellen Austauschs, in dem die deutsche klassische Musik im ausgehenden 19. Jahrhundert eine herausgehobene Rolle spielt.

Deutschland galt im 19. Jahrhundert als "das Land der Musik"

Gienow-Hecht sagt, sie habe sich immer schon für die Rolle von Kultur in internationalen Beziehungen interessiert und irgendwann bemerkt, welch großen Stellenwert die klassische Musik in der Wahrnehmung Deutschlands in den USA im 19. Jahrhundert gehabt habe: „Deutschland – obwohl es bis 1871 gar kein Staat war – galt als das Land der Musik, das Land einer emotionalen Expressivität, die man anderswo nicht fand.“

Das habe damit zu tun, dass die USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach einer eigenen Identität gewesen seien, nach einem eigenen Profil, das sich wirtschaftlich und militärisch allmählich abgezeichnet habe, politisch aber noch nicht klar und kulturell überhaupt noch nicht bestimmt war.

Auf der Suche nach der „großen nationalen Emotion“ in der Musik wenden sich die Amerikaner Deutschland zu. Es habe „eine ganze Armada von Musikstudenten und amerikanischen Komponisten nach Bayreuth, nach Köln und nach Berlin an die großen Konservatorien gezogen“, sagt Jessica Gienow-Hecht. Umgekehrt wurden in allen größeren Städten in den USA Symphonieorchester gegründet, samt und sonders unterstützt von reichen Mäzenen, für die die deutsche klassische Musik das beste Vehikel für eine Kultur des „refinement“ – der Vornehmheit – ist, mit der sich die entstehende urbane Elite schmückte.

Muck wollte nicht im Schatten von Richard Strauss stehen

Interessanterweise, so Jessica Gienow-Hecht, sei der Vormarsch der deutschen Musik nicht darauf zurückzuführen, dass zur damaligen Zeit rund 20 Prozent der Bevölkerung in den USA deutscher Abstammung oder sogar in Deutschland geboren waren. Die Deutsch-Amerikaner seien weder unter den Mäzenen der Orchester noch unter den Zuschauern in großer Zahl zu finden gewesen. Die Musik, sagt die Historikerin, habe aus ganz anderem Grund als Werkzeug der Politik gedient: „Kaiser Wilhelm II. suchte nach Möglichkeiten, in den USA für das Deutsche Reich „goodwill“ – Wohlwollen – zu erzeugen, und entschied sich für die Musik als Mittel der Klangdiplomatie – nicht zuletzt weil Großbritannien wegen der englischen Sprache in der Literatur im Vorteil war und Frankreich mit seinen Impressionisten die Malerei beherrschte.“

Karl Muck wird 1906 zuerst vom Kaiser nach Amerika geschickt, für einen einjährigen Aufenthalt, und verlängert diesen mit Erlaubnis des Regenten um ein weiteres. Erst danach entscheidet er sich, in Boston zu bleiben, weil er an der Königlichen Oper in Berlin darunter leidet, im Schatten von Richard Strauss zu stehen. Nur noch zu Gastspielen kehrt er nach Deutschland zurück. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, dirigiert Muck gerade in Bayreuth. Eine Zeitung berichtet, vor dem dritten Akt des Parsifal habe sich die Nachricht von der Generalmobilmachung verbreitet, und Muck habe die Oper mit nur noch halber Besetzung zu Ende bringen müssen.

Nach dem Krieg kehrt er nie wieder nach Amerika zurück

Trotz des Kriegsbeginns kehrt Muck nach Boston zurück und arbeitet weiter mit einem Orchester, das selbst im Jahr 1917 unter seinen Musikern noch 44 Deutsche, 12 Österreicher, fünf Franzosen, vier Belgier, drei Italiener, drei Russen, zwei Engländer zählt – und nur 14 Amerikaner. Doch die Vorherrschaft der deutschen Musik in den USA geht unweigerlich ihrem Ende zu. Dies sei eine Entwicklung, sagt Gienow-Hecht, die nicht erst mit dem Ersten Weltkrieg begann, die dieser aber beschleunigt habe.

Immer lauter wurden die Stimmen, die forderten, man solle doch endlich auch amerikanische Komponisten spielen; in manchen Städten wurde sogar verlangt, deutsche Komponisten aus den Programmen zu nehmen. Schon zuvor hätten sich die amerikanischen Musiker in Gewerkschaften organisiert und dagegen protestiert, dass sie gegenüber ihren deutschen Kollegen im Hintertreffen waren, sagt die Wissenschaftlerin. Der Krieg trägt das Seinige zu der Entwicklung bei: Viele Deutsche werden einberufen und kehren von der Front nicht wieder zurück.

Es ist das Ende einer kurzen Ära der deutsch-amerikanischen Musikbegeisterung und Klangdiplomatie. Als Muck im August 1919 aus dem Internierungslager entlassen wird, schifft er sich auf dem Passagierdampfer S.S. Frederick VIII. nach Kopenhagen ein. Einladungen, nach Amerika zurückzukehren, schlägt er bis zu seinem Tod im Jahr 1940 aus. Und vor allem wegen seiner Liebe zu Wagners Musik gerät Muck, von dem schon früher antisemitische Äußerungen etwa gegen jüdische Musiker belegt sind, am Ende seines Lebens noch in die Nähe der Nationalsozialisten: Zu Wagners 50. Todestag dirigiert er eines seiner letzten Konzerte in Leipzig. Im Publikum: der zwei Wochen zuvor zum Reichskanzler ernannte Adolf Hitler.

Pepe Egger

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