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Neugier statt Big Data: Vielfalt programmieren!

Der Mensch denkt gern in Mustern – Technologien verstärken das. Und wer Neues gestalten will, im Job oder als Arbeitgeber? Der muss aus der Algorithmus-Herrschaft ausbrechen. Keine leichte Sache in digitalen Zeiten.

Mein Nachbar ist knapp vier Jahre alt und liebt das, was Kinder lieben: Pommes mit Ketchup. Man könnte meinen, dass er sich jeden Tag davon ernähren will. Seine Mutter hat neulich eine Probe aufs Exempel gewagt und ihm so häufig Pommes vorgesetzt, wie er wollte. Doch schon beim vierten Mal hintereinander hatte er die Lust daran verloren und verlangte (freiwillig!): Salat. Danach war er von seiner Pommessucht geheilt. Denn so gerne wir uns an Gewohnheiten, Muster und unser Lieblingsessen klammern, so wichtig ist für uns – im Alltag wie im Arbeitsleben – auch die Abwechslung. Zumindest manchmal.

Ein Verhalten, das jeden Amazon-Algorithmus auf die Palme bringen würde. Denn die meisten digitalen Tools, die unser Konsumverhalten auswerten, nutzen genau das aus: dass wir so gerne in Ritualen und Regelmäßigkeiten denken. Wenn wir fünf Tage lang hintereinander Würstchen mit Pommes bestellt haben, wird ein solcher Algorithmus am sechsten Tag wieder „Pommes mit Würstchen“ empfehlen. Darauf hat ein vernünftiger Mensch mit Sicherheit keine Lust mehr. Es ist die Vielfalt, die unser Leben bereichert. Doch diese zu finden fällt gerade in Zeiten in denen wir uns digital unterstützen lassen immer schwerer. Denn eine digitalisierte Arbeitswelt, die zunehmend die Macht von Algorithmen und Big Data nutzt, folgt unserem Drang nach Korrelationen und Mustern – und ist der natürliche Feind aller Abwechslung im Denken.

Musterdenken beschleunigt unser Leben enorm

Unser Gehirn ist ein Großmeister im Suchen und Erzeugen von Gewohnheiten und Regelmäßigkeiten. Schon bevor wir auf die Welt kommen, hat unser Nervennetzwerk längst begonnen, wiederkehrende Muster zu erkennen. Jeder neue Reiz wird so verwertet, dass er optimal ins Denkmuster passt – ansonsten wird er passend gemacht oder verdrängt. Werden wir mit einer anderen Ansicht oder etwas Neuem konfrontiert, ist die erste Reaktion daher meistens eine Ablehnung. Schon nach einer knappen halben Sekunde, also bevor es uns also überhaupt Bewusst werden kann, geht unser Gehirn dabei in eine Abwehrhaltung und ist erstmal skeptisch ob des Neuen.

Das kann man engstirnig oder clever nennen. Auf der einen Seite wird Vielfalt und Abwechslung einer Regelmäßigkeit geopfert. Doch nur auf diese Weise sind wir überhaupt in der Lage, schnell und ohne großen Denkaufwand Entscheidungen zu treffen. Wenn Sie in diesem Moment diesen Text lesen, müssen Sie nicht groß nachdenken, wie die Schriftzeichen zusammengestellt sind, wie der Text aufgebaut ist und das Lesen funktioniert. Wenn Sie diesen Text in einer Zeitung lesen, nutzen Sie Ihr Denkmuster „Zeitunglesen“, dass Sie in jahrelanger Erfahrung immer weiter verfeinert haben. Und wenn Sie diesen Text auf einem Computerbildschirm betrachten, rufen Sie ohne groß zu überlegen das Denkkonzept „Text auf einem Bildschirm lesen“ ab.

Ein solches Musterdenken hat einen gewaltigen Vorteil: Es beschleunigt unser Leben enorm. Wir müssen nicht jedes Mal überlegen, wenn wir etwas tun, sondern können uns auf unsere Denkroutinen verlassen. Für einen Großteil unseres Lebens ist das eine wunderbare Sache, denn wer denkt schon gerne viel nach? Doch wenn man alternative Denkmuster grundsätzlich ausklammert, hat das einen hohen Preis: Man unterschätzt den Nutzen der Ideenvielfalt.

Wir hinterlassen permanent eine Datenspur

Unsere menschliche Schwäche für Gewohnheiten und Muster, also für ein eher abwechslungsarmes Leben, kann durch digitale Technologien allzu leicht nutzbar gemacht werden. Da wir in unserem Leben permanent eine Datenspur hinterlassen, ist es für Analyseprogramme kein großes Problem, unser Leben zu datafizieren und nach Mustern zu bewerten: Wir zahlen elektronisch mit Karte, sammeln beim Einkaufen Rabattpunkte, lassen uns vom GPS-System navigieren, schreiben unseren Freunden per WhatsApp, analysieren unseren Freizeitsport mit Fitnesstrackern und Smartwatches, googeln das nächstgelegene Restaurant.

Weil wir dabei die meiste Zeit unseren Ritualen und Denkmustern folgen, ist es für ein Big-Data-System leicht, anhand unseres digitalen Fußabdruckes eine ziemlich präzise Analyse unseres Lebens zu liefern. Angeblich kann man allein anhand des Einkaufsverhaltens ableiten, ob jemand schwanger ist – und schon ein paar Dutzend Facebook-Likes geben Aufschluss über die politische Orientierung.

Wir selbst befeuern dieses digitale Denken in Mustern, indem wir uns bei Spotify die Musik vorschlagen lassen, die angeblich am besten zu uns passt. Wir klicken bei Facebook auf die Meldungen, die unseren Freunden auch gefällt. Und wir wählen Medien so aus, dass deren Nachrichten möglichst gut zu unseren eigenen Ansichten passen. Eigentlich ist es paradox: Noch nie war es so einfach mit anderen Menschen und Meinungen in Kontakt zu kommen, und doch erliegen wir so oft unserer Schwäche für das Gewohnte, entscheiden uns gegen die Abwechslung, bleiben beim Altbewährten – auch, weil es uns digitale Medien so einfach machen und genau darauf spekulieren.

Digitale Systeme können Ideenvielfalt zerstören

Dr. Henning Beck ist Neurowissenschaftler in Frankfurt am Main.
Dr. Henning Beck ist Neurowissenschaftler in Frankfurt am Main.

© privat

Doch dabei darf man nicht vergessen: Die Zukunft wird nicht dadurch gestaltet, dass man aus Datenbergen der Vergangenheit die kommende Entwicklung ableitet. Eine Datenanalyse mag nützlich sein, um Konsumentenverhalten zu erkennen, aber es ist eine Falle, wenn es darum geht, neugierig zu bleiben, die Welt zu verändern und etwas Neues zu gestalten. Denn digitale Systeme (ob es der Facebook-Nachrichtenalgorithmus oder der Amazon-Vorschlagalgorithmus sind), können die Ideenvielfalt auch zerstören und die Vorlieben verstärken, die ohnehin schon da sind. Sie diskriminieren die Abweichung und schlagen das vor, was bisher gut funktioniert hat.

Konsequent zu Ende gedacht führt eine solches Anwenden von übermäßigem Korrelationsdenken in eine Ideenmonokultur. Bevor man etwas Neues ausprobiert, ist es schließlich viel einfacher, sich auf Altbewährtes zu verlassen. Noch vor 15 Jahren, als Nokia Marktführer bei Handys war, gab es eine geradezu schillernde Vielfalt an unterschiedlichen Mobiltelefonen: Handys mit geraden Tastaturen, mit geschwungenen Tasten, Klapphandys, Sliderhandys, Handys mit runden Bedienknöpfen oder eckigen Schaltern. Schlägt man heute ein Prospekt eines Elektrofachmarktes auf, kommt einem eine Armada aus optisch nahezu identischen Android- und iPhone-Klonen entgegen, deren Design algorithmusoptimiert den bisherigen Trend analysiert und fortschreibt. Doch jedes Mal, wenn wieder ein neues Top-Smartphone präsentiert wird, denke ich an meinen kleinen Nachbarn an Tag Vier voller Pommes mit Ketchup.

Auch in der Arbeitswelt kann blindes Vertrauen in Big-Data-Systeme das zerstören, was wir unbedingt brauchen: die Abwechslung. Wenn man einen selbstlernenden Recruiting-Algorithmus nutzt, um alle möglichen Bewerbungsschreiben analysieren zu lassen, wird dieser feststellen: Männer verdienen im Durchschnitt mehr als Frauen, scheinen also erfolgreicher zu sein. Vielleicht wird er dann mehr Männer zu einem Vorstellungsgespräch lassen und damit genau in die Einfältigkeitsfalle tappen, die Vielfalt zerstört. Denn auch wenn maschinelles Lernen aus großen Datenbergen bisher unbekannte Muster zutage fördert, den Grund für diese Muster erklärt uns kein Computer.

Daten haben Geschichte, aber keine Zukunft

Die zunehmende Nutzung von digitalen Technologien hat gewaltige Vorteile, doch darf sie nicht dazu führen, dass unser Denken zu sehr „spotifyisiert“, sprich: einfältiger wird. Die Verführung ist groß, aus den von uns erzeugten Datenbergen nicht nur Korrelationen, sondern auch Vorhersagen abzuleiten. Was gestern gut war, sollte morgen schließlich auch gut sein. Dabei darf man nicht vergessen: Daten sind passives Material aus der Vergangenheit. Sie haben Geschichte, aber keine Zukunft. Sie zu analysieren kann helfen, die Gegenwart zu verstehen. Doch wer nur zurückschaut, sieht nicht, was auf ihn zukommt.

Glücklicherweise sind Menschen nicht nur an Gemeinsamkeiten und Mustern interessiert, sondern auch von Zeit zu Zeit an Abwechslung. Denn nicht immer, wenn ein Denkschema erfüllt wird, macht das Spaß. Oft ist das Gegenteil der Fall – so funktioniert jeder Witz: Es wird eine Erwartungshaltung aufgebaut und anschließend überraschend gebrochen. Kein Wunder, dass wir das lustig finden, denn ohne Spaß am Neuen, an dem freudigen Gefühl positiv überrascht zu werden, hätten wir keine neuen Welten erobert, sondern uns daran erfreut, dass sich so wenig ändert.

Vielleicht sind 98 Prozent unseres Lebens korreliert und in Mustern digital abbildbar. Doch die übrigen zwei Prozent ändern alles. Es sind die Unterschiede, die Abwechslungen, die neuen Dinge, die uns wirklich überraschen und uns auf neue Ideen kommen lassen. Das gilt sogar im datenfokussiertesten Umfeld überhaupt, der Börse: Als US-Wissenschaftler 2014 untersuchten, was erfolgreiche Anleger an der Börse auszeichnet, stellten sie fest, dass es auf die Vielfalt im sozialen Netzwerk ankommt. Personen, die ein möglichst abwechslungsreiches Umfeld hatten, schnitten bei ihren Anlageentscheidungen um 50 % besser ab als diejenigen, die sich in ihrem Umfeld ihre eigenen Meinungen bestätigen ließen. Wer der Masse hinterherläuft, geht schließlich niemals seinen eigenen, erfolgreichen Weg.

Nur weil wir neugierig bleiben, können wir die Welt gestalten

Natürlich braucht es Mut, um aus seinen Denkgewohnheiten auszubrechen, fremde Meinungen zu akzeptieren und zu nutzen. Doch nur so sind wir mehr als algorithmische Muster-Erkenner. Wir schauen über den Tellerrand hinaus und kommen auf neue Ideen. Wir weichen vom Weg ab und kommen dorthin, wo noch niemand war. Wir lassen uns von anderen Sichtweisen inspirieren und können dadurch die Welt verändern.

Würden wir immer nur wie ein digitales Big Data-System nach Mustern und Gemeinsamkeiten suchen, wären wir am Ende genauso effizient wie ein monokultiviertes Maisfeld: super gut, wenn alles gleichbleibt, schnell am Ende, wenn sich eine Kleinigkeit ändert. Nur weil wir neugierig auf Überraschungen bleiben, sind wir fähig, die Welt zu gestalten. Natürlich tun wir oft das, was digitale Systeme ausnutzen: Wir suchen und leben nach Mustern und Regeln. Doch wir tun noch mehr: Wir können unliebsame Gewohnheiten brechen. Ob das gut geht, wissen wir vorher nicht. Aber nur dadurch sind wir frei.

Das neueste Buch von Henning Beck „Irren ist nützlich“ ist im Carl Hanser Verlag erschienen (20 Euro).

Henning Beck

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