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Wir haben eine junge Frau gebeten, von ihrem Alltag mit Depressionen zu erzählen. Geboren Anfang der 1980er in einer Kleinstadt, lebt sie seit vielen Jahren in Berlin. Da sie unter anderem berufliche Nachteile fürchtet, möchte sie anonym bleiben.

© Magdalene Weber

Depression: "Ich lasse mir mein Leben nicht versauen"

Wenn Depressionenzum ständigen Begleiter werden, wird der Alltag zum Kampf. Eine Betroffene erzählt, warum sich dieser immer und immer wieder lohnt.

Wir haben eine junge Frau gebeten, von ihrem Alltag mit Depressionen zu erzählen. Geboren Anfang der 1980er in einer Kleinstadt, lebt sie seit vielen Jahren in Berlin. Da sie unter anderem berufliche Nachteile fürchtet, möchte sie anonym bleiben.

Meine Depressionen sind wie eine getönte Brille: Sie liegen wie ein Filter über allem, färben meine Wahrnehmung, meine Gedanken und Gefühle. Ich trage diese Brille schon mehr als 30 Jahre, fast mein ganzes Leben. Das war mir natürlich nicht immer bewusst. Lange Zeit war diese Art der Weltsicht für mich schlicht und ergreifend: normal.

Schon als Kind war ich oft traurig, fühlte eine gewisse Schwere auf mir. Auf Fotos aus dieser Zeit sieht man mich nur selten lachen. Ich habe viel nachgedacht, mich mit anderen verglichen - und natürlich kam ich dabei immer schlechter weg: Die anderen Kinder waren klüger als ich, sie waren fröhlicher als ich. Sie waren liebenswerter. Ich wollte so sein wie sie, wollte, dass mich die Erwachsenen auch gernhaben. Deshalb habe ich immer versucht, meine Schwere zu verstecken - auch vor mir selbst. Anstatt mich ihr zu stellen, hielt ich mich beschäftigt. War unterwegs. Feierte viel. Flüchtete. Verleugnete. Ich denke, das ist mir gut gelungen. Vielleicht zu gut.

Als Jugendliche wurde ich einmal von einem Bekannten gefragt, ob ich viel grübeln würde. Grübeln? Das Wort sagte mir nichts. Ich war der Meinung, ich würde einfach viel nachdenken. So wie alle anderen auch. Damals wurde mir ein wenig bewusst, dass all die Sorgen, all die Gedanken, die in meinem Kopf kreisten, vielleicht doch nicht so normal waren, wie ich dachte.

Grübeln also. Ja, das Wort traf es. Trifft es noch heute. Negative Gedankenschleifen, in denen ich immer wieder feststecke, die mich lähmen, mir alle Energie rauben. Wenn ich nachts schlecht schlafe, morgens mit einem Klumpen im Magen erwache und kaum atmen kann, weil die Angst mich fast erdrückt. Wenn ich mich dann in die Küche schleppe und an den Tisch setze. Gefangen in einem Zeitloch, verstrickt in meine Gedanken. In diesem Zustand stellen selbst die einfachsten, vielleicht auch unwichtigsten Entscheidungen für mich unlösbare Probleme dar: Soll ich erst duschen? Oder erst frühstücken? Und was ist mit den Blumen, wann gieße ich die? Ich weiß es nicht. Und bleibe deshalb sitzen, unfähig, einen Entschluss zu fassen. Stundenlang.

Ja, vielleicht klingt das albern. Manchmal lache ich hinterher selbst über diese »Probleme«. Während der Depression aber sind sie da - quälend und real. Trotzdem tat ich lange so, als wäre nichts. Ich machte einen Schulabschluss. Zog von zu Hause aus, von einer Kleinstadt nach Berlin. Machte eine Ausbildung. Arbeitete. Funktionierte. Bis es einfach nicht mehr ging. Meine Mutter erkrankte schwer und starb. Eine Beziehung zerbrach. Ich wurde ungewollt schwanger und trieb ab. Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Und war endlich in der Lage, mir einzugestehen, dass ich Hilfe brauchte.

EIne ambulante Kurzzeittherapie brachte keinen Erfolg. Also beschloss ich, mich in eine Klinik einweisen zu lassen. Das war das Beste, was mir passieren konnte: alle Verantwortung abgeben, nicht mehr funktionieren müssen, nicht mehr verstecken. Ich konnte einfach nur sein. Und versuchen, mich selbst wiederzufinden.

Drei Monate blieb ich in der Klinik, machte Gruppen- und Einzeltherapien, ging joggen, machte Ausflüge mit den anderen Patienten. Und ich lernte, dass das Leben nicht immer schwer sein muss. Dass es auch leichter, freundlicher, heller sein kann. Dazu brauchte es allerdings einige Zeit - und viel Überzeugungsarbeit vonseiten der Ärzte. Denn natürlich wollten sie, dass ich nicht nur Gesprächstherapien mache, sondern auch Antidepressiva nehme. Psychopharmaka. Ich wehrte mich lange dagegen, ließ mich aber schließlich überzeugen. Sie sagten mir, dass auch die anderen Therapien oft erst dann etwas bewirken können, wenn man aus seinen Gedankenschleifen rauskommt - und dabei helfen die Medikamente.

Anfangs fühlte es sich komisch an, mir war häufig schwindelig. Doch dann bemerkte ich, wie sich meine Wahrnehmung veränderte. Wie der Filter, durch den ich die Welt sah, langsam schwächer wurde. Genauso wie die negativen Gedanken und Gefühle: Stück für Stück schienen sie an den Rand zu rücken, Platz zu machen für andere Empfindungen. Ich erinnere mich, dass ich eines Abends im Bett lag und wieder einmal keine Ruhe fand. Aber diesmal war es anders als sonst: Es war nicht die Schwere, die mich vom Schlafen abhielt. Ganz im Gegenteil: Es war die plötzliche Leichtigkeit, die ich empfand. Ein ganz neues Gefühl. Verwirrend, aber auch schön. »Ich kann gar nicht einschlafen, weil ich so glücklich bin«, sagte ich zu meiner Zimmernachbarin. Sie hörte gar nicht mehr auf zu lachen.

Nach dem Klinikaufenthalt machte ich weiter ambulante Therapien, Psychoanalyse, Verhaltenstherapie. Bis heute. Auch die Psychopharmaka nehme ich noch immer. Mittlerweile habe ich akzeptiert, dass ich sie brauche. Wie ein Herzkranker, der ja auch sein Leben lang Tabletten nehmen muss. Ich habe in der Vergangenheit immer wieder versucht, die Medikamente abzusetzen. Doch jedes Mal fiel ich wieder in ein Loch. Wahrscheinlich bräuchte ich viel Kraft, Ruhe und Sicherheit in meinem Leben, um ohne die Tabletten auszukommen. Aber woher sollte ich diese Ruhe und Kraft nehmen? Ich müsste mich beruflich einschränken, hätte wohl mit Konzentrationsproblemen und Stimmungsschwankungen zu kämpfen. Aber wie erkläre ich es meinem Chef, wenn ich in Tränen ausbreche, wenn ich eine neue Aufgabe kriege? »Ach, ich bin gerade einfach etwas labil, ich setze meine Psychopharmaka ab«? Sicher nicht.

Meinen Arbeitgeber habe ich deshalb angelogen. Ich habe ihm meine Krankheit nicht nur verschwiegen, ich habe sie explizit verneint. Auf einem Fragebogen, den ich ausfüllen musste, da die Stelle regelmäßige längere Auslandsaufenthalte vorsieht. Natürlich kann ich es nicht genau wissen - aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den Job bei einer ehrlichen Antwort nicht bekommen hätte. Trotz meiner sonstigen Eignung.

Das war vielleicht nicht völlig okay. Aber mir wegen meiner Krankheit diese Chance entgehen lassen? Nein, niemals. Nicht mehr. Ich will mein Potenzial ausschöpfen, nicht mich in die Krankheit ergeben. Ich lasse mir von den Depressionen nicht mein ganzes Leben versauen. Auch wenn sie es immer wieder versuchen.

In den schlimmsten, dunkelsten Phasen meines Lebens habe ich mich mehr als einmal gefragt, warum ich mir das alles eigentlich noch antue: warum ich mich immer wieder mühsam aufrapple, nur um dann doch wieder zusammenzubrechen. Warum ich nicht einfach aufgebe. Schluss mache. Endgültig. Manchmal waren diese Gedanken sehr konkret. Das war erschreckend, beängstigend - aber irgendwie auch beruhigend. Wie ein leuchtendes Schild »Notausgang« in einem langen, dunklen Flur. Ich habe ihn nie benutzt, diesen Notausgang. Aber ich kann es verstehen, wenn andere es tun. Leider wird das immer wieder vergessen: Depressionen können eine tödliche Krankheit sein.

Ich bin froh, dass ich immer wieder die Kraft fand, weiterzumachen. Ich habe Familie und gute Freunde, die mich unterstützen. Die mich, wenn ich weder ein noch aus weiß, geduldig beraten: Wie war das mit dem Duschen, Frühstücken, Blumengießen? Auch die Jahre in der Therapie zeigen Wirkung: Ich bin zunehmend erfolgreich im Kampf gegen die Krankheit, es gelingt mir immer öfter, in Krisen die Situation objektiv zu betrachten - und damit die Gedankenschleifen zumindest vorübergehend zu durchbrechen.

Ob ich die Depressionen jemals ganz loswerde? Ich weiß es nicht. Aber ich bin schon weit gekommen. Das Leben ist schöner, als ich noch vor ein paar Jahren gedacht habe. Es hielt mehr für mich bereit, als ich je gedacht hatte. Und jetzt bin ich neugierig, was da alles noch so kommt.

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Weitere Themen der Ausgabe: Faktencheck. Spannende Infos über Geist und Seele; Du hast doch `ne Meise. Ab wann ist die Psyche wirklich krank?; Hirnforschung. Was die Neurowissenschaft kann und was nicht; Psychosomatik. Körper und Geist sind eine untrennbare Einheit; Der Weg zur Heilung. Ambulant, stationär, Reha? Der Navigator weist den Behandlungsweg; Hilfe in der Lebenskrise. Berliner Adressen für den Notfall. Medikamente. Wirkung, Nutzen und Risiken von Psychopharmaka; DEPRESSIONEN: Raus aus der Blase. Der Rückweg ins Leben kann gelingen; Winterdepression. Wie künstliches Licht gegen saisonale Stimmungstiefs hilft; BURNOUT: Krankheit mit chic? Warum Burnout für manche nur eine Modeerscheinung ist; Abgeschaltet. Eine Skisprunglegende spricht über Sport und Krankheit; Ausgebrannt. Ein Comedian erzählt über die dunkle Seiten des Erfolgs; SUCHT: Leben ohne Drogen. Eine Entwöhnung ist harte Arbeit; Kinder von Süchtigen. Ein Bilderbuch thematisiert die Wirkung der Alkoholsucht auf die Familie; Rauschgift. Welche Drogen es gibt und wie sie wirken; SCHIZOPHRENIE: Reizflut. Wenn der Dopaminhaushalt im Hirn aus den Fugen ist; Familienangelegenheit. Autorin Janine Berg-Peer über das Leben mit einer schizophrenen Tochter; PSYCHISCHE STÖRUNGEN: Angstfrei leben. Eine krankhafte Furcht ist heilbar; Arztbrief. Wie Zwangsstörungen therapiert werden; Essstörungen. Wenn der Genuss verloren geht; SCHLAFSTÖRUNGEN: Selbstversuch. Schlummern im Labor; Traumforschung. Was unser nächtliches Kopfkino verrät; SERVICE: Kliniken und Ärzte im Vergleich; Kolumne. Helmut Schümann rät, die Psyche ernst zu nehmen

Protokoll: Magdalene Weber

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