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Klingelzeichen. Einige der Menschen, bei denen Annalena Rehkämper vor der Tür stand, haben noch nie in ihrem Leben gewählt.

© Sebastian Leber

Bundestagswahlkampf: Bei Nichtwählern an der Haustür

Nirgends wählen Deutsche so selten wie in Sachsen-Anhalt. Junge Freiwillige versuchen, sie aufzuwecken - und erleben Erstaunliches.

Dienstagnachmittag, südliche Innenstadt. Annalena Rehkämper, 25, versaut sich gerade die Quote. Schon sieben Leute, die nicht sprechen wollen. Manche haben sie im Treppenhaus abgewiesen, manche öffneten erst gar nicht die Tür. Eine Frau erklärte über die Gegensprechanlage, sie habe mit der Politik schon lange abgeschlossen und „sowieso keine Hoffnung“ mehr. Ein anderer sagt: „Für dieses Zeugs habe ich keine Zeit.“

Die Gespräche beginnen immer so: „Hallo, mein Name ist Annalena Rehkämper, ich mache gerade ein Projekt zu Politik und Gesellschaft. Uns interessiert, was den Menschen in Deutschland wichtig ist.“ Wenn sie es bis dahin schafft, fragt sie ihr Gegenüber, was ihm persönlich denn wichtig sei.

Älterer Mann im Treppenhaus: „Na dass ich nicht gestört werde.“

Rehkämper stutzt, fragt nach: „Fällt Ihnen konkret etwas ein, das Sie gerade stört, also außer ich?“

„Nein!“

Sie sind am Freitag voriger Woche in Bernburg angekommen, haben ihre Zimmer in der abgelegenen Jugendherberge bezogen, im Speisesaal die ausgedruckten Karten an die Wand geklebt. Mit den Straßen der Orte, in die sie einfallen wollen: Köthen, Nienburg, Staßfurt, Güsten, Bitterfeld Alles Gemeinden aus dem Wahlkreis 71.

Nur 59,4 Prozent haben gewählt - lässt sich das steigern?

Bei der letzten Bundestagswahl haben nirgends weniger Menschen abgestimmt als in Sachsen-Anhalt: 62,1 Prozent, fast zehn Prozentpunkte unter dem Bundesdurchschnitt. Innerhalb Sachsen-Anhalts wiederum gehört Wahlkreis 71 zu den Schlusslichtern. Nur 59,4 Prozent nahmen teil. Genau deshalb sind Annalena Rehkämper und ihre Mitstreiter hier: Sie wollen mit den Menschen ins Gespräch kommen, zuhören und diskutieren - und so die Beteiligung an der Bundestagswahl erhöhen. Sie vertrauen auf eine Gewissheit der Politikwissenschaft: Je mehr Menschen zur Wahl gehen, umso geringere Chancen haben Extremisten.

Politikwissenschaftler haben in den vergangenen Jahren allerdings noch andere Gewissheiten formuliert. Zum Beispiel: mehr Bildung gleich höhere Wahlbeteiligung. Oder: je prekärer die Lebensverhältnisse, desto weniger Menschen gehen wählen. Lässt sich dagegen ankämpfen, indem man bloß zuhört und redet?

Rehkämpers Freiwilligentruppe nennt sich „Projekt Denkende Gesellschaft“. Die meisten studieren. Sie kommen aus München, Hamburg, Berlin, haben sich über Freunde oder das Internet kennengelernt. Die wenigsten waren schon mal in Sachsen-Anhalt. Außer auf Durchreise.

Die ersten Tage in Bernburg haben gezeigt, dass Gespräche möglich sind, ja oft erwünscht. Die Studenten haben viel Unmut mitbekommen. Über die Herrschenden, die sich „die Taschen vollstopfen“, über das Gefühl, dass sich „die da oben“ sowieso nicht um Bernburg scheren, über das persönliche Zukurzgekommensein. Immer wieder auch Unmut über Asylbewerber, denen die Regierung das Geld hinterherschmeiße. Die rumsäßen und nichts täten. Die Essen wegwürfen. „Eine Apfelsine“, sagt eine Frau, „ich habe das gesehen.“ In Bernburg beginnen viele Sätze mit „Ich habe nichts gegen Flüchtlinge, aber “

Die Studenten haben Menschen getroffen, die noch nie in ihrem Leben gewählt haben, weil das sowieso nichts ändere. Manche sagen, es gäbe besser überhaupt keine Parteien, da diese sich nur miteinander zankten, statt sich um die Probleme der Leute zu kümmern. Eine Frau sagt, vor 1990 habe das mit dem Regieren effizienter funktioniert. Und jeder Bürger habe, anders als heute gern behauptet, jederzeit seine Meinung äußern können. „Man musste halt nur aufpassen, vor wem.“

Um das Klingeln an fremden Haustüren zu üben, haben sich die Projektteilnehmer im August zu einem Workshop getroffen. Viele hatten Hemmungen. Hausbesuch klang nach Drückerkolonne oder Zeugen Jehovas. Rehkämper sagt, die Hemmungen seien schnell vergangen. Und wer möchte, kann alternativ Passanten auf der Straße ansprechen.

Auf dem Bernburger Marktplatz geht Philip Bremer, 21, Psychologiestudent aus Dresden, auf einen Mann mit kurzgeschorenem Haar zu, der zur Mittagszeit mit einer Freundin und zwei Flaschen Pils im Schatten auf einer Bank sitzt. Der Mann trägt ein Wikingertattoo und einen Ring mit dem Eisernen Kreuz drauf.

Er sagt, er heiße Werner Boosd, sei 50 Jahre alt und nicht rechts, allerdings „ein wenig rechts angehaucht“. Es gebe durchaus Kanaken, mit denen er theoretisch Bier trinken würde. Doch er akzeptiere nicht, dass jeder Flüchtling 800 Euro im Monat geschenkt bekomme, während er selbst, Vater von sieben Kindern, mit Hartz IV auskommen müsse. Philip Bremer, der Psychologiestudent, fragt, woher diese Summe stamme, sie stimme nämlich nicht. Na gut, sagt Werner Boosd, aber trotzdem. Was ihn am meisten ärgere: „Sobald wir den Flüchtlingen mal irgendwas verweigern, teure Smartphones zum Beispiel, heißt es direkt wieder, wir Deutschen seien Nazis.“

Abends in der Jugendherberge versammeln sich die Studenten auf der Terrasse im Kreis, um einander von den Gesprächen des Tages zu berichten. „Reflexionsrunde“ nennen sie das. Man sieht müde Gesichter, aber auch euphorische. Es wird von Menschen berichtet, die gar nicht wussten, dass bald Wahl ist. Und von irrwitzigen Argumenten.

Eine ältere Frau, die zunächst forderte, man solle alle Flüchtlinge erschießen, ließ sich auf die Forderung herunterhandeln, die Flüchtlinge sollten, wenn sie nun schon mal da sind, im Ort das Unkraut jäten. Ein Mann, der erst ausländerfeindlich, dann aber plötzlich doch sachlich wirkte und von sich aus sagte, dem einzelnen Migranten mache er keinen Vorwurf, allein die chaotische Grenzöffnung im Sommer 2015 sei im Rückblick zu beanstanden, verabschiedete sich mit den Worten: „Aber wissen Sie, wer eigentlich an allem schuld ist? Der Jude.“

Manche glauben, das Wahlergebnis sei bereits heimlich beschlossen

Ende August gab es laute Proteste von Rechten gegen den Besuch der Bundeskanzlerin in Bitterfeld.
Ende August gab es laute Proteste von Rechten gegen den Besuch der Bundeskanzlerin in Bitterfeld.

© Afp

Projektmitgründer Anh-Quân Nguyen, 25, gebürtiger Münchner mit vietnamesischen Eltern, hat eine spezielle Beobachtung gemacht. Den Menschen sei es peinlich, ihm ihre Fremdenfeindlichkeit zu zeigen. Sie sagten: „Das geht jetzt nicht gegen Sie persönlich, aber “

In der Reflexionsrunde wird häufig gelacht. Es klingt nicht herablassend, eher erschrocken über das Gehörte und Erlebte. Es klingt auch wie die gegenseitige Versicherung, dass die eigene Haltung die richtige ist. Und dass die Unvernunft, der man hier ausgesetzt ist, die Pauschalurteile und die Ignoranz schon nicht auf einen abfärben werden. Manchmal haben sie auch Mitleid, sogar Verständnis. Etwa mit jener Frau, die erst eine Unterschriftenaktion gegen die Schließung eines Altersheims, dann für den Bau eines Spielplatzes und schließlich gegen die Schließung einer Schule initiierte. Das Altersheim und die Schule wurden geschlossen, der Spielplatz nicht gebaut. Wie soll man so jemanden zum Wählen motivieren?

Anh-Quân Nguyen sagt, er habe trotz allem bemerkenswerte Gespräche geführt. Und wache, interessierte Menschen kennengelernt. Auf einem großen Bogen Papier notiert er die Gesamtzahl aller Gesprächsversuche der Gruppe - und wie viele davon erfolgreich waren. Für Tag drei steht dort: „230 von 332“. Macht eine Erfolgsquote von 69 Prozent.

Dass die Studenten aus den Großstädten und die Bernburger, Köthener und Nienburger überhaupt so oft zueinander finden, liegt an einem Trick. Statt über konkrete Politik zu sprechen, fragen die Projektteilnehmer zu Beginn nach Werten. „Gerechtigkeit, Freiheit, Sicherheit Was ist Ihnen da besonders wichtig?“ Das hilft, eine Brücke zu bauen. Sie geben grundsätzlich keine Empfehlungen für bestimmte Parteien. Aber sie verweisen auf den Wahl-O-Mat im Internet.

Haben sie keine Angst, frustrierte Nichtwähler zur Wahl zu überreden, die dann ihr Kreuz bei der AfD machen? Annalena Rehkämper sagt: „Solange jemand seine Entscheidung gut begründen kann, ist es nicht an mir, das zu bewerten.“

Dienstagvormittag fahren sie nach Staßfurt. 30 000 Einwohner, Geburtsstätte des Kalibergbaus. In der Fußgängerzone spricht Alexandra Schubert, 21, Politikstudentin aus Hamburg, eine Passantin an. Die klagt, dass hier seit Jahren alles wegbreche. Die Deutsche Bank sei bereits fort, demnächst schließe auch noch die Hauptpost. Staßfurt habe nicht mal ein eigenes Kraftfahrzeug-Meldeamt. Wenn sie ein neues Auto kaufe, müsse sie für das Nummernschild rüber nach Bernburg. „Und überall ist Dreck.“ Die Politikstudentin aus Hamburg entgegnet, sie habe noch nie so saubere Straßen gesehen wie dieser Tage im Wahlkreis 71: „Es liegen ja nicht mal Zigarettenkippen rum.“

„Doch, manchmal schon.“

Den Niedergang Staßfurts erkenne man im Übrigen an den Kreisverkehren, sagt die Befragte. Die seien wegen Geldmangels in der Mitte gar nicht mehr mit Blumen bepflanzt. Wenn sie könnte, würde sie hier einpacken und umziehen.

Nach Berlin? In den Westen? Nee, sagt die Frau, erstmal ins 16 Kilometer entfernte Aschersleben. Dort reihe sich eine Bankfiliale an die nächste. Und dort wüchsen auf den Kreisverkehrsinseln auch noch Blumen.

Die Vernachlässigung Staßfurts reiche viel weiter in die Vergangenheit zurück, sagt ein Mann im nahegelegenen Park. 1994, als sie Hochwasser hatten und die Bode Teile der Stadt überflutete, habe es kaum Hilfe gegeben. Er selbst hat bis vor vier Jahren Sprinkleranlagen montiert, jetzt ist er arbeitslos. Statt Menschen wie ihn zu unterstützen, verschwende die Regierung Geld für sinnlose Projekte wie die Energiewende. „Ich meine, Kohle wird in Deutschland seit über 100 Jahren abgebaut, warum sollte das plötzlich umweltschädlich sein?“

Wählen werde er auf keinen Fall, alle Versuche, ihn umzustimmen, könne sich die Studentin sparen. Die Herrschenden hätten bereits untereinander abgestimmt, wer diesmal gewinnt, sagt er. Und dann noch: „Ich bin eben kein politischer Mensch, ich bin ein realistischer Mensch.“

Viele Befragte wünschen sich mehr Basisdemokratie. Wichtige Entscheidungen sollen nicht mehr in Parlamenten getroffen werden, sondern per Volksentscheid. Ein Mann will schnellstmöglich darüber abstimmen lassen, ob die Türkei endlich aus der Europäischen Union ausgeschlossen wird.

Die Projektteilnehmer geben sich in ihren Gesprächen sichtlich Mühe, nicht überheblich zu wirken und niemanden zu belehren. Tatsächlich lernen sie selbst eine ganze Menge.

Auf dem Marktplatz in Bernburg werden sie von einer Gruppe junger Männer über die lokalen Machtverhältnisse aufgeklärt. Es gebe die Punker und die Nazis, die schlügen sich regelmäßig. „Dann gibt's die Albaner, die hassen sowohl die Punker als auch die Nazis“, weshalb sie gern auf beide Gruppen einprügeln. Die Albaner seien allerdings mit den „Magdeburgern“ befreundet, also Fans des Fußballklubs 1. FC Magdeburg. Deshalb seien die Albaner und die Magdeburger meist in der Überzahl. Wer mit den Prügeleien angefangen hat, ist nicht mehr auszumachen. Der Mann vom „Projekt Denkende Gesellschaft“ sagt dazu, dass er Selbstjustiz uncool finde, und die jungen Männer schauen irritiert.

Das Problem dieses Landes, sagt einer von ihnen, sei halt, dass jeder nur an sich selbst und nicht an die Interessen der Gemeinschaft denke.

„Und wenn du für einen Tag die Macht hättest. Was würdest du verändern?“

Der Mann sagt, er sei Sportschütze und würde deshalb als erstes den Erwerb der AK 47 legalisieren. Das Sturmgewehr, auch bekannt als Kalaschnikow, eigne sich nämlich als Selbstverteidigungswaffe. „Man kann damit Angreifern in den Fuß schießen, dann verbluten die nicht direkt.“ Der Mann lächelt, doch er sagt, er meine das ernst.

Am Ende wird er versprechen, den Wahl-O-Mat auszuprobieren.

Ob ihr Einsatz neben der gefühlten auch eine messbare Wirkung hat, sehen Annalena Rehkämper und die anderen frühestens am 24. September. Sie wollen die Beteiligung im Wahlkreis 71 mit der strukturell ähnlicher Wahlkreise vergleichen. Sollte es hier tatsächlich einen Anstieg geben, wäre das ein Grund zum Weitermachen, sagt Rehkämper. Vielleicht erhalten sie sogar einen Hinweis darauf, ob die alte Gewissheit der Politikwissenschaften noch stimmt: ob ein Anstieg der Wahlbeteiligung den Parteien der Mitte hilft. Bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr kam die AfD in Bernburg auf 30 Prozent.

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