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Chinesen und Araber bauen London um. Die Stadt wird bald kaum noch wiederzuerkennen sein.

© dpa

London: Wolkenkratzer verändern die Stadt

London plant 236 neue Hochhäuser – die Stadt an der Themse platzt aus allen Nähten. Reiche Chinesen, Russen und Araber wälzen die ganze Stadt vollständig um. Ohne Plan.

Europa bekommt sein Manhattan: an der Themse. Bald wird London New York in der Bevölkerungszahl überrunden. Mehr als 8,3 Millionen Menschen leben bereits in der Stadt. Und ein Wald neuer Hochhäuser wird das Stadtbild radikal verändern.

Die glückliche Mehrheit der Londoner wohnt immer noch in zwei- oder dreistöckigen Reihenhäuschen. Noch vor 30 Jahren war es verboten, dass in London höher gebaut wurde als die Kuppel der St.-Paul’s-Kathedrale. Bei Sondergenehmigungen wurde um jeden Meter Höhe gekämpft. Doch nun wurden Londoner durch einen Bericht der Architektur-Denkfabrik NLA (New London Architecture) aufgeschreckt: Mindestens 236 neue Hochhäuser mit 20 Stockwerken werden gebaut. Davon sind 45 bereits im Bau, 113 haben die Baugenehmigung erhalten, weitere 72 sind in der Planungsphase. Bei sechs Gebäuden konnte der Status nicht verifiziert werden. 33 dieser Hochhäuser haben zwischen 40 und 49 Stockwerke, 22 sogar mehr als 50 Stockwerke. Und 80 Prozent davon sind nicht für Büros, sondern für Wohnungen gedacht.

Einen Plan oder eine Vision gab es in London noch nie

NLA gab die Studie in Auftrag, als Londons Bürgermeister Boris Johnson im vergangenen Jahr eine neue Wohnbaustrategie bekannt gab und versprach: „Überall werden Hochhäuser hochwachsen.“ NLA-Direktor Peter Murray wurde stutzig: „Ich habe absolut nichts gegen Hochhäuser. Aber verstehen wir die Folgen?“ Er bezweifelt, dass das fragmentierte Londoner Planungssystem, das wesentlich auf den Planungskomitees der 32 „Boroughs“ oder Stadtbezirke beruht, die Sache im Griff hat. „Wir brauchen eine Stadtplanung, die ihrer Aufgabe gerecht wird, eine Zukunftsvision der Stadt zu entwickeln und die Entwicklungen in die richtigen Bahnen zu lenken.“

Aber eine solche Vision gab es für die britische Hauptstadt nie. Als 1666 die Londoner City abbrannte, sollte die Stadt großzügig und rational mit breiten Boulevards nach Plänen von Stararchitekt Sir Christopher Wren wieder aufgebaut werden. Aber die Bauherren und rührige Unternehmer waren schneller. Wren schaffte die St.-Paul’s-Kathedrale und Dutzende von herrlichen Barockkirchen, aber die Stadt erneuerte sich nach dem Brand durch chaotisches Wachstum. Ähnlich schnell entwickelten sich das Westend im 18. Jahrhundert und die Docklands in den 1980er Jahren – man versuchte erst gar nicht, das Wachstum in planerische Bahnen zu lenken.

Zurzeit kommen jede Woche 1000 Menschen neu in die Stadt – ein vollgepackter U-Bahn-Zug: Neuankömmlinge aus aller Welt und neugeborene Londoner. Insgesamt leben nun mehr als 8,3 Millionen Menschen in der Stadt. Vor dem Crash 2008 lieferte London 37 Prozent des britischen Wachstums. Heute sind es 48 Prozent. „London ist ein schwarzer Stern und verschluckt Ressourcen. Menschen, Energie. Niemand weiß, wie man ihn kontrollieren soll“, beschreibt der Experte der London School of Economics, Tony Travers, die Stadt.

London wächst mit ungeheurer Geschwindigkeit

Das macht es schwer, die geliebte Londoner Skyline und den denkmalgeschützten Blick von der Waterloo Bridge auf St. Paul’s in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen. „In den nächsten Jahren brauchen wir Jobs für 500 000 Menschen und Wohnungen für mehr als eine Million. Da können wir nicht ein Hochhausverbot erlassen und die Hauptstadt zum Stillstand bringen“, sagt Londons Planungsbürgermeister Edward Lister.

Bürgermeister Johnson preist London als „beste Stadt auf dem Planeten“. Londoner sind sich nicht sicher, ob das Fluch oder Segen ist. Die Dynamik der Agglomeration ist enorm. Wo viele sind, wollen noch mehr hin. Vagabundierendes Billiggeld aus der ganzen Welt hat die Metropole als sein liebstes Ziel entdeckt. „London ist eine globale Stadt und hat unausweichlich ein internationales Element in seiner Wirtschaft. Die erstaunliche Transformation, die wir sehen, verdankt sie internationalen Investoren“, freut sich Johnson.

Westeuropas höchstes Gebäude, der elegante Eiszapfen aus Glas von Renzo Piano, den die Londoner „Shard“ (Scherbe, Splitter) nennen, ist gegenüber der St.-Paul’s-Kathedrale zum Fanal dieses neuen London geworden. Er gehört dem Staatsfonds von Qatar. Ein malaysisches Konsortium baut Luxuswohnungen in die legendäre alte Battersea Power Station, die von Pink Floyds „Animal“-Album bekannt ist. Chinas reichster Mann Wang Jianlin und seine Dalian Wanda Gruppe investieren Milliarden Pfund in Londoner Wohn- und Hotelbauten und planen einen chinesischen Business Park. Hoch gebaut wird nicht nur, weil die enormen Grundstückspreise dazu zwingen, sondern weil die asiatischen Bauherren es nicht anders gewohnt sind.

Was Londoner wirklich interessiert, ist, ob sie sich Wohnungen in den neuen Wolkenkratzern leisten könnten. Antwort: eher nicht. Die Preise steigen unentwegt. Gegen den Tsunami von ausländischem Geld haben nur wenige Einheimische eine Chance. Oft werden Neubauwohnungen gar nicht in London, sondern nur in Asien vermarktet. Johnson will Bauherren nun zwingen, Wohnungen zuerst in London anzubieten. Chelsea war und ist Londons reichster und schickster Stadtteil. Aber auch der einzige Bezirk in ganz London, wo die Menschen weniger werden. Weil so viele Wohnungen leer stehen – als reine Spekulationsobjekte.

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