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Der Galerist Johann König zeigt in der brutalistischen Architektur der St.-Agnes-Kirche in Kreuzberg zeitgenössische Kunst.

© Kai-Uwe Heinrich

Yoga, Cafés, Museen, Galerien: Wie Berlins Kirchen sich für die Welt öffnen

Zu wenige Gläubige, zu wenig Geld - viele Kirchen in Berlin öffnen sich auch weltlich. Es gibt Cafés, Yoga. Andere sind sogar entwidmet und beherbergen heute Galerien oder Museen.

Von Laura Hofmann

Mit Kirche hat Christian Birkelbach – wie die meisten Berliner – nichts am Hut. Der 37-Jährige ist mit 18 ausgetreten, und wiederum 18 Jahre später trat die Kirche erneut in sein Leben. Genauer: die Genezareth-Kirche am Neuköllner Herrfurthplatz. Hier, im szenigen Schillerkiez, wo die Mieten so schnell steigen wie kaum anderswo in Berlin, betreibt er seit wenigen Tagen das Café Selig. Der Name war von der Kirchengemeinde vorgegeben: „Selig heißt übermäßig glücklich. Im theologischen Sinne bedeutet es: Im Jenseits sind wir aller Sorgen enthoben“, erklärt Pfarrerin Christine Radziwill.

Das Lokal im linken Seitenarm der Genezareth-Kirche ist hell und einladend, die Terrasse befindet sich direkt vor dem Kircheneingang. Holztische, grüne und blaue Stühle, viele Pflanzen, schwarze Lampen im Industrial-Design – das „Selig“ sieht aus wie Hipster-Cafés in Berlin eben aussehen. Und doch soll es viel mehr sein: ein Treffpunkt im Kiez, sagen Radziwill und Birkelbach. Auch Taufen und Trauerfeiern sollen hier stattfinden.

Ein Ort für alle?

Kann ein hippes Café in einer Gegend, die wie wenige andere für den Berliner Gentrifizierungsprozess steht, für alle da sein? Eine ältere Dame kommt herein. „Ich wollte mal gucken, weil es ja neu ist“, sagt sie. Zögerlich bleibt sie für eine halbe Minute in Türnähe stehen, dann geht sie wieder, wünscht noch „Viel Erfolg“. Sie gehört vielleicht zu den alteingesessenen Nachbarn, so wie auch viele türkische Familien im Kiez. Von ihnen ist an diesem Dienstagvormittag im Café Selig nichts zu sehen.

Zu den neuen Nachbarn gehören junge Familien, die ihre Kinder in der Genezareth-Kirche taufen lassen. Das freut Pfarrerin Radziwill. Doch die sozialen Gegensätze bereiten der Kirchengemeinde auch Probleme: Ende April wurden ganz in der Nähe Autos vor einem angesagten Burgerimbiss angezündet. Ins Gemeindehaus wird fast jede Woche eingebrochen.

Christian Birkelbach, mit 18 Jahren aus der Kirche ausgetreten, führt seit Kurzem das Café Selig im linken Seitenarm der Neuköllner Genezarethkirche.
Christian Birkelbach, mit 18 Jahren aus der Kirche ausgetreten, führt seit Kurzem das Café Selig im linken Seitenarm der Neuköllner Genezarethkirche.

© Thilo Rückeis

Die 1905 eingeweihte Kirche im gotischen Stil wurde 2003 bis 2006 nach einem Entwurf von Gerhard Schlotter umgebaut. Der Kirchraum ist dadurch kleiner und heller geworden, in Anbauten sind vier Gruppenräume entstanden, außerdem das Café Selig und ein Büro. Damals stand die Gemeinde vor der Entscheidung: investieren oder schließen?

Sie entschied sich für Ersteres, andere Kirchen in Berlin mussten dagegen schließen – zu wenige Gemeindemitglieder, zu wenig Geld. Jüngsten Zahlen zufolge sind 2015 rund 12.500 Menschen aus der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ausgetreten. Damit sank die Mitgliederzahl um etwa zwei Prozent auf knapp über eine Million. Das Erzbistum Berlin, das auch weite Teile Brandenburgs und Vorpommern umfasst, hat 2015 zwar insgesamt Mitglieder hinzugewonnen, in Berlin ging die Zahl der Katholiken jedoch leicht zurück auf 330.213.

Wenn kaum noch jemand kommt

„Entwidmung“ nennt man in der Kirchensprache das Schicksal, das den Gotteshäusern blüht, wenn kaum noch jemand kommt. Acht solcher entwidmeten evangelischen Kirchen gibt es in Berlin, auch elf katholische Kirchen dienen nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck – so wie die Elias-Kirche in Prenzlauer Berg, in der im Januar 2001 der letzte Gottesdienst gefeiert wurde. Die Heizung funktionierte nicht richtig, es war kalt, aber für die Renovierung der Backsteinkirche in der Senefelder Straße fehlten 400.000 Euro.

So wurde das Allerheiligste aus der Kirche getragen, das Ewige Licht gelöscht, die Reliquien dem Altar entnommen, auch die liturgischen Geräte und Einrichtungsgegenstände wurden herausgeholt. Die Gemeinde zog in das nur 200 Meter entfernte Gemeindehaus. Dort werden heute die Gottesdienste im renovierten Kuppelsaal abgehalten.

In der Kirche eröffnete 2003 das „Mach mit!“-Kindermuseum nach Plänen des Architekten Klaus Block. Wo einst Pfarrer Heinz-Otto Seidenschnur predigte, hoppeln heute Kaninchen durch Stroh. Und statt Holzbänken, auf denen Gläubige Platz nahmen, gibt es nun ein riesiges Labyrinth aus Holz. Dazu kommen Werkstätten, Ausstellungsflächen, Krabbel-und Kuschelecken, ein Spiegelkabinett. In der aktuellen Ausstellung können Kinder in ein rotes Zelt kriechen, das als Modell einer Gebärmutter dient. Spielerisches Lernen, darum geht es.

Die St.-Agnes-Kirche in Kreuzberg wurde 2005 vom Erzbistum Berlin aufgegeben. Man musste Geld sparen, darum wurden drei Kreuzberger Gemeinden zusammengelegt. Der Galerist Johann König kaufte die Kirche im Sozialwohnungskiez in der Alexandrinenstraße. Aus dem Gotteshaus wurde 2013 die Galerie König, der 800 Quadratmeter große Kirchenraum wurde zur Ausstellungsfläche. Im eindrucksvoll hohen Kirchenschiff mit rohem Putz an den Wänden hängen heute Skulpturen von der Decke wie übergroße Mobiles. Das Tageslicht kommt von oben über Fensterbänder im Dach herein. Die Atmosphäre: erhaben.

In der Emmaus-Kirche am Lausitzer Platz, ebenfalls in Kreuzberg, strecken gerade ein paar Frauen und Männer ihren Po nach oben. Yoga ist nur eines von vielen Angeboten in den Räumen der evangelischen Emmaus-Gemeinde. „Wir finden, dass Yoga gut zu uns passt“, sagt Pfarrer Jörg Machel. „Viele Leute, die ganz weit von uns weg waren, entdecken darüber, dass wir auch andere Dinge machen, die sie gut finden.“

Die Emmaus-Kirche hat sich darauf eingestellt, dass Kirche für immer weniger Menschen ein beständiger Lebensbegleiter ist. Und sie beteiligt sich am Kiezalltag: Es gibt Frühstück für Bedürftige, die Planungsgruppe Görlitzer Park trifft sich dort, auch die Anonymen Alkoholiker. „Kreuzberg ist immer noch Slum und zugleich hippe Wohngegend“, sagt Machel. „So ein Nebeneinander kenne ich von nirgendwo anders.“

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