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Zum Zug kommen. Viele Bahnhöfe und Haltestellen sind schon mit Blindenleitsystemen ausgestattet.

© Doris Spiekermann-Klaas

Wie man als Blinder durch Berlin kommt: Gefährliche Grünpfeile, tückische Poller, schweigende Busse

Für Blinde ist Berlin ein gefährliches Pflaster. Ein Gespräch über Poller, zu leise E-Autos – und Busse und Bahnen, die nicht reden.

Herr Scharbach, gerade ist in Berlin die Europameisterschaft im Blindenfußball gespielt worden. Es war eines dieser Ereignisse zum Staunen darüber, was Menschen trotz Einschränkungen leisten. Nützen solche Veranstaltungen auch über den Tag hinaus?

Zumindest schaffen sie ein Bewusstsein. Je mehr die Leute über die Effekte von Einschränkungen wissen, desto einfacher wird das Miteinander.

Wie viele Blinde leben eigentlich in Berlin?

Wir gehen von 5000 blinden Menschen aus und von etwa 20 000, die sehr schlecht sehen. Wobei das schwer zu definieren ist. Jemand, der seit Geburt fast blind ist, kommt mit einer Sehleistung von vier, fünf Prozent meist besser zurecht als jemand, der durch eine Erkrankung auf dieses Niveau zurückgeworfen wird. Wie viele Menschen wirklich betroffen sind, will der Staat offenbar nicht so genau wissen: Im Mikrozensus wird es nicht abgefragt, die Statistikämter haben keine valide Zahl.

Die BVG scheint eine alte Forderung von Ihnen jetzt ernst zu nehmen und plant einen Test, bei dem Busse und Straßenbahnen an Haltestellen sagen, wer sie sind.

Schon eine knappe Ansage zu Linie und Fahrziel würde sehr helfen. Alternativ kann die Info auch von der Haltestelle angesagt werden. Als dritte Variante kommt eine App in Betracht, die die Infos empfängt. Allerdings verlangt die UN-Behindertenrechtskonvention, dass Informationen ohne weitere Hilfsmittel erhältlich sein müssen. Das spricht also gegen die App als alleinige Informationsquelle, zumal ich wegen des Stocks ohnehin immer nur eine Hand frei habe und die App barrierefrei bedienbar sein muss. Und selbst dann braucht ein Blinder mehr Zeit und Übung als jemand, der sieht. Aber das gilt ja für alles, was nicht komplett über Sprache funktioniert.

Außenansagen von Bussen und Straßenbahnen würden also die Lebensqualität Blinder deutlich verbessern?

Ja, denn Stress ist keine Lebensqualität. Und Stress haben Sie ohnehin genug, wenn Sie keinen Schritt unaufmerksam tun können. Eine Mauer nimmt man akustisch noch nebenbei wahr, aber ein Straßenschild eben nicht – und schon gar nicht im Verkehr. Was den Bus betrifft: Wenn ich sicher weiß, dass es der falsche ist, muss ich mich auch nicht beeilen, um ihn zu kriegen. Hinzu kommt, dass viele Sehbehinderte den weißen Blindenstock gar nicht nutzen dürfen oder wollen. Und die wollen keinem Busfahrer ausgeliefert sein, der sagt: Kannste nicht kieken?

Für Gehbehinderte ist Berlin in den vergangenen Jahren dank Aufzügen und abgesenkter Bordsteine deutlich komfortabler geworden. Stellen Sie für Blinde eine ähnliche Entwicklung fest?

Während der Bewerbung um Olympia 2000, also in den 1990ern, hat sich eine Menge getan. Aber gerade in letzter Zeit ist die Entwicklung grottenschlecht, weil kaum noch Ampeln und Kreuzungen behindertengerecht umgebaut werden. Und viele Bordsteine sind auf Null abgesenkt worden. Als Blinder merkt man dort nicht mehr, wo der Gehweg endet und die Fahrbahn beginnt. Wenn wir dann das Bezirksamt darauf hinweisen, kommt ein Dank und das Versprechen, es in Zukunft besser zu machen. Aber es kann doch nicht sein, dass man die Baufirmen einfach machen lässt. Straßenbauer sind sicher keine Uhrmacher, aber sie können sehr wohl null von drei Zentimetern unterscheiden. Oder nehmen wir die Begegnungszone in der Maaßenstraße, in der nicht nur Lieferanten, sondern auch Fußgänger Probleme haben, weil irgendwo Bänke herumstehen.

Ein Plädoyer für freie Bahn?

Ja! Ohne Zickzack, ohne exzessive Schankvorgärten. Und Poller sind die Pest. Das ist, als würde ihnen jemand, den Sie nicht gesehen haben, ein Bein stellen. Klar kann man die mit dem Stock rechtzeitig bemerken. Aber wer macht schon immer alles richtig?

2013 ist Berlin von der EU mit einem Preis für Barrierefreiheit ausgezeichnet worden.

Der Senat hat diesen Preis mit großem Stolz herumgezeigt. Aber er hat die Auszeichnung nicht als Ansporn verstanden, sondern als Lorbeerpolster, auf dem er sich nun auszuruhen scheint. Dass es Städte gibt, die schlechter sind als wir, sollte ja nicht der Maßstab sein.

Ist es denn anderswo so viel besser?

In Stockholm zum Beispiel sagt Ihnen längst jeder Bus, wer er ist und wohin er fährt. Laut Gesetz muss der ÖPNV bis Ende 2022 insgesamt barrierefrei sein. Da ist es ein Unding, dass die BVG hunderte Busse ordert, ohne zumindest deren Nachrüstbarkeit mit Außenlautsprechern sicherzustellen. Es gibt zwar Beschränkungen für Außenlautsprecher an Fahrzeugen. Aber diese alte Vorschrift zielte darauf, Werbung zu unterbinden. Wenn man die UN-Konvention ernst nimmt, wird man dringend etwas tun müssen. Stattdessen lässt die Verwaltung die Bürger online fragen, ob sie Elektrobusse kaufen würden und ob die Verkehrsmittel mit Ökostrom fahren sollen.

Manfred Scharbach ist Geschäftsführer des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin (ABSV) e.V. Der 62-Jährige ist von Geburt an blind.
Manfred Scharbach ist Geschäftsführer des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin (ABSV) e.V. Der 62-Jährige ist von Geburt an blind.

© Stefan Jacobs

Apropos Elektrobusse: Wie problematisch sind die leisen E-Mobile für Blinde?

Jedes Elektroauto in Bewegung ist eine Gefahrenquelle, wenn es kein Geräusch macht. Die Zahl dieser Gefahrenquellen wird drastisch zunehmen, zumal es ja weiter Lärm von Baustellen und von Verbrennungsmotoren geben wird. In der Zeit, bis ein anfahrender Dieselbus außer Hörweite ist, können Sie eine Menge E-Autos überhört haben.

Deshalb schreibt die EU für E-Mobile künftig ein künstliches Fahrgeräusch vor.

Das gilt erst für Fahrzeugtypen, die ab 2019 zugelassen werden. Ich verlange, dass Berlin und seine Eigenbetriebe schon jetzt nur Elektroautos mit dieser Technik anschaffen.

Nach welchen Gesichtspunkten plant man als Blinder seine Wege durch die Stadt?

Es fängt an damit an, ob man den Weg überhaupt bewältigt. Man geht also die Strecke vorher genau durch und überlegt sich, ob man womöglich den Begleitservice des VBB nutzt – sofern er nicht gerade wieder aus Geldmangel eingestellt wurde – und wo man umsteigt. Dazu muss man im Detail wissen, wo welcher Bus hält. Große Straßen überquert man nur, wo es eine behindertengerechte Ampel gibt. Rund 700 Anlagen fehlen noch.

Selbst uneingeschränkt fitte Menschen beklagen zunehmende Rücksichtslosigkeit im Verkehr. Erleben Sie die auch?

Für Blinde ist der grüne Abbiegepfeil ein Riesenproblem, weil das Geräusch parallel anfahrender Autos – unsere Orientierungshilfe – dann auch bei Rot möglich ist. Aber ob da neben mir ein abbiegender Autofahrer Fußgänger bedrängt und ins Lenkrad beißt, sehe ich ja nicht.

Bietet man als Sehender einem Blinden Hilfe an, auch wenn er nicht danach fragt?

Ja. Der Blinde wird Sie vielleicht fragen, ob er Ihren Ellenbogen anfassen kann. So dirigieren sie ihn quasi von allein: Wenn es eng wird, nehmen Sie den Ellenbogen ran, sodass man eher hintereinander geht. Und man bemerkt Höhenunterschiede gut: Wenn Sie die Treppe runterfallen, kann ich einfach loslassen.

Manfred Scharbach ist Geschäftsführer des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin (ABSV) e.V. Der 62-Jährige ist von Geburt an blind.

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