zum Hauptinhalt
Familie Reinefeld (die Eltern, Markus und Luisa stehen in der Mitte) in der Kathedrale von Santiago

© privat

Von Sarria nach Santiago de Compostela: Sie sind dann mal weg

Familie Reinefeld aus Charlottenburg ist den Jakobsweg gelaufen. 121 Kilometer in einer Woche mit sieben Stadtkindern – ohne Wandererfahrung.

Nach 119 Kilometer fällt dann doch noch ein Rad vom Kinderwagen ab. Da kann Familie Reinefeld die Türme der Kathedrale von Santiago de Compostela schon sehen. Zwei Kilometer sind es nur noch, dann haben sie auch die letzte Etappe des Jakobsweges geschafft. Mit vereinten Kräften schieben sie den kaputten Kinderwagen durch die Straßen Santiago de Compostelas und erreichen entkräftet aber glücklich die Kathedrale.

Drei Monate später sitzt Familie Reinefeld an einem großen Tisch in ihrem Wohnzimmer in Charlottenburg. Den Pilgerstab haben sie hervorgeholt, ebenso ihre Urkunden. Am Tisch und um ihn herum sitzen, stehen, liegen, laufen sechs Jungs: Teseo, Eneko, Damian, Alexander, Noel und Pascal, sie sind sechs Monate bis 13 Jahre alt. Vincent, 14, ist gerade nicht da. Die einzigen, die ruhig am Tisch sitzen, sind Luisa Reinefeld-Vidal und ihr Mann Markus Reinefeld. Sie und die Kinder bilden das, was man als Patchwork-Familie bezeichnet. Aber ganz stimmt der Begriff nicht, denn Patchwork bedeutet ja so viel ‚Flickarbeit' und zusammengeflickt ist hier nichts – und das liegt auch ein bisschen daran, dass sie gemeinsam das Abenteuer auf dem Jakobsweg überstanden haben.

Vor fünf Jahren haben Markus und Luisa ihre beiden Familien zusammengeführt. Er brachte drei Kinder, sie zwei in die Ehe. Seither sind zwei neue dazugekommen. „Anfangs war es nicht leicht“, gibt Markus Reinefeld zu. „Wir mussten unsere verschiedenen Erziehungsvorstellungen vereinbaren. Die Verbote für den einen, müssen auch für den anderen gelten.“ Mit den Familien der ehemaligen Partner trafen sie Vereinbarungen über die Übernachtungszeiten. Alle zwei Wochen sind alle Kinder von Montag bis Montag bei ihnen.

„Unsere Familie ist ein bisschen schwierig“, sagt auch Luisa Reinefeld-Vidal, die ursprünglich aus Spanien kommt. Es brauchte eine Herausforderung, die die ganze Familie richtig zusammenschweißen würde. Zumindest fassten die beiden Eltern diesen Gedanken im Juli bei einem Spaziergang im Grunewald. Luisa Reinefeld-Vidal, die wenige Woche zuvor erst Teseo entbunden hatte, sagt: „Wir wollte schon immer mal einen Teil des Jakobswegs laufen. Da fragten wir uns, warum machen wir das nicht mit den Kindern?“ Die Kinder fragten sich das allerdings nicht. Keiner von ihnen wollte mit. Aber sie hatten keine Wahl.

"Unsere Kinder sind Stadtkinder, die laufen fast nie"

Der Jakobsweg ist nicht einfach nur ein normaler Wanderweg. Seit fast 1000 Jahren pilgern Menschen nach Santiago de Compostela, dem legendären Wallfahrtsort. Doch es führen viele Wege nach Santiago. Durch ganz Mittel- und Westeuropa laufen Pfade in den Nordwesten Spaniens. Mindestens 100 Kilometer müssen die Pilger laufen, um in Santiago ein Zertifikat zu erhalten. Fast 280 000 Menschen taten das im vergangen Jahr.

Der Weg ist aber nicht nur wegen seiner Länge eine Herausforderung: Bis zu 40 Grad heiß kann es in Spanien im Sommer werden und auch die hügelige Landschaft Galiciens sollte man nicht unterschätzen. Der Jakobsweg ist also eher etwas für geübte Wanderer. Familie Reinefeld hatte sich noch nicht einmal richtige Wanderstiefel besorgt. „Unsere Kinder sind Stadtkinder, die laufen fast nie“, sagt Luisa Reinefeld-Vidal, die in einem Schöneberger Kinderladen arbeitet. Ein einziges Mal seien sie von zu Hause bis zum Kant-Kino, dem Arbeitsplatz ihres Mannes, gelaufen; 3,8 Kilometer waren das. „Das war furchtbar. Alle hatten danach Rückenschmerzen.“

Daher blieben auch Freunde und Verwandte skeptisch: „Ihr seid doch verrückt“, war die überwiegende Meinung. Mitte August machten sie sich auf den Weg. Mit dem Auto fuhren sie von Berlin nach Santander im Norden Spaniens. Dort nahmen sie noch Luisas Cousin Juan und dessen Frau Gema und ihren Sohn Hugo mit. Am 17. August wanderten sie in Sarria los. Jeder bepackt mit seinem eigenen, gut 20 Liter fassenden, Rucksack und einem Pilgerstab aus Holz.

Außer die drei Jüngsten. Der gerade mal zwei Monate alte Teseo erlebte den ganzen Weg aus entspannter Perspektive – nämlich aus der Babytrage vor der Brust seines Vaters. Der zweijährige Eneko durfte fast die gesamte Strecke im Sitzen im Kinderwagen verbringen. Seine Brüder mussten ihn abwechselnd schieben. Ebenso wie Damian. Der ist zwar schon zehn Jahre alt, hat aber die orthopädische Kinderkrankheit Morbus Perthes und kann nicht mehr als vier Kilometer am Stück laufen.

Der Jakobsweg gilt als Ort der Selbstfindung und Selbstbesinnung – vor allem bei den Deutschen. Mittlerweile sind sie nach den Spaniern und Italienern, die dritthäufigste Pilgergruppe: 2016 waren es über 21 000. Doch Selbstfindung oder gar die Suche nach der spirituellen Wirkung des Weges, hat für die Reinefelds keine Rolle gespielt. „Wir wollten einfach nur etwas gemeinsam erleben“, sagt Luisa Reinefeld-Vidal.

Als Belohnung gab es jeden Tag einen Besuch im Schwimmbad

Und das hat funktioniert – wenn auch nicht ganz reibungslos. „Anfangs fand ich es blöd zu wandern und es tat auch an den Füßen weh, aber dann hat es doch ein bisschen Spaß gemacht“, sagt Alex. Sein Bruder Noel sieht es etwas negativer: „Manchmal habe ich meine Eltern innerlich verflucht.“ Das schlimmste sei gar nicht so sehr der Weg gewesen. Viel mehr war es das frühe Aufstehen zwischen halb sechs und sechs. Und dass sie tagsüber auf das Smartphone verzichten mussten. „Erst abends durften wir zwei Stunden damit spielen. Das war blöd“, sagt auch Pascal. Über Rückenschmerzen klagt aber keiner. Als Belohnung für die Kinder ging es nach jeder der im Schnitt 20 Kilometer langen Etappen in ein öffentliches Schwimmbad.

Tagsüber liefen sie an Haselnuss- und Eichenbäumen vorbei, an Pinien und Eukalpytus, durch idyllische Mittelalterdörfer und malerische Landschaften. Immer im Blick: die gelbe Jakobsmuschel auf dunkelblauem Hintergrund als Wegmarkierung. Jeden Tag holten sie sich einen Stempel für ihr Pilgerbuch, das man am Ende in Santiago vorzeigen muss, um eine Pilgerurkunde zu bekommen. Aber schon auf der Strecke erhielten sie viel Anerkennung von anderen Pilgern, zwei Regionalzeitungen berichteten sogar über die Pilger aus Charlottenburg.

Als sie kurz vor Schluss noch erfuhren, dass in ihr am Start stehen gelassenes Auto eingebrochen wurde, war die Stimmung kurzzeitig im Keller. „Aber dann haben wir uns fest vorgenommen, nicht mehr daran zu denken. Das hat auch geklappt“, sagt Markus Reinefeld.

Am 23. August erreichten sie Santiago. Aber auch die Ankunft verlief nicht ohne Probleme: Auf einmal war die gelbe Jakobsmuschel weg – kein Wegweiser war mehr zu finden. Luisa Reinefeld-Vidal sagt: „Wir wussten auf einmal nicht mehr, wo wir sind.“ Erst ein paar Einheimische zeigten ihnen den Weg.

Und so erreichten sie kurze Zeit später, nach 121 Kilometer, die Kathedrale von Santiago de Compostela. Ein Glücksmoment: „Mein Cousin war so überwältigt, dass er weinen musste“, erzählt Luisa Reinefeld-Vidal. „Vor Erschöpfung haben wir uns erst einmal vor die Kathedrale gelegt,“ ergänzt ihr Sohn Alex. Zwei Stunden nach der Ankunft wurde drinnen dann der kleine Teseo getauft, anschließend erhielt jeder seine Pilger-Urkunde. „Man kann sich den Weg wie das Leben vorstellen. Wir waren unten, wir waren oben, wir haben geweint, wir haben gelacht“, resümiert Luisa Reinefeld-Vidal. Aber erst nachdem die Sache mit dem Autoeinbruch geklärt war, war wieder alles wirklich in Ordnung.

Am Tisch in Charlottenburg sind sich nun alle einig:: Enger zusammengewachsen sind sie durch den Weg allemal. Ist durch das Abenteuer in Galicien jetzt auch ihre Lust nach Natur und weiteren Wanderungen geweckt? „Nächstes Jahr laufen wir 800 Kilometer“, sagt Pascal, 13, halb im Scherz. „Aber ohne Kinderwagen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false