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Zentrum des Südens. Über der Spandauer Linh-Thuu-Pagode wehte lange die Fahne Südvietnams. Auch heute kommen Besucher mit Süd- und nordvietnamesischen Wurzeln einander nur zögernd näher.

© David Heerde

Vietnamesen in Berlin: Der Nord-Süd-Konflikt

Ehemalige Boat People hier, linientreue Kommunisten da: Nach dem Mauerfall standen sich in Berlin Vietnamesen aus zwei Welten gegenüber. Bis heute ist man einander fremd. Eine Beziehungsgeschichte.

Von Bettina Malter

Die beheizten Fliesen wärmen Fußpaare in Socken. Sohlen huschen über den spiegelglatten Boden der großen Halle mit den meterhohen, goldenen Buddha-Figuren, bis sie unter knieenden Oberschenkeln verschwinden. Über hundert buddhistische Vietnamesen sitzen Schulter an Schulter und blicken auf die Meisterin des Tempels: raspelkurze Haare, geschnürt in eine senffarbene Kutte. Sie verbeugt sich vor einer Tafel mit Gaben für die Ahnen: Teller mit Bananen, Erdbeeren und Weintrauben, Pyramiden aus Äpfeln und Mandarinen. Räucherstäbchen hüllen den Raum in Sandelholzduft. Die Meisterin singt wie in Trance die Gebete in ein Mikrofon. Später werden die Gläubigen miteinstimmen.

Folgt man den Klischees unter Vietnamesen, so kann man an der Kleidung vieler der hier versammelten Betenden eine Teilung ablesen, die auch noch 25 Jahre nach dem Mauerfall besteht. Zwei vietnamesische Communitys gibt es in Berlin; eine im Osten, eine im Westen. Frauen aus dem Ostteil, damals vom kommunistischen Vietnam in die DDR geschickt, hocken vor Buddha in Leggins mit Strasssteinchen, einige haben ihr Haar blondiert; die Männer präsentieren sich in Röhrenjeans und mit hochgegelten Haaren. Vietnamesen aus dem Westteil der Stadt, damals vor dem kommunistischen Regime geflohen, tragen dagegen Hemden, die Frauen edle Blazer, ihr schwarzes langes Haar fällt elegant über Schultern. Es passt zu den Vorurteilen, die auch Deutsche voneinander haben: Im Osten ähneln die Menschen Cindy aus Marzahn, im Westen werden teure Marken getragen.

Nach dem Vietnamkrieg, Mitte der Siebziger, befreite die kommunistische Armee den Süden und einte das Land – so erzählen es die Nordvietnamesen. Nach dem Vietnamkrieg, Mitte der Siebziger, stahlen die Nordvietnamesen den Südvietnamesen das Land und steckten Tausende in Umerziehungslager – so sehen es die aus dem Süden. Von ihnen flohen mehr als eine Million in Fischerbooten vor der vereinten sozialistischen Republik. Fast die Hälfte starb dabei. Einige der sogenannten Boat People fanden in einer vom Eisernen Vorhang getrennten Welt in der Bundesrepublik eine neue Heimat, etwa 2000 in West-Berlin. Zur gleichen Zeit schickte Vietnam linientreue Vertragsarbeiter ins sozialistische Bruderland DDR.

Wer woher kommt, ist oft schon am Outfit zu erkennen

Diem Tran war noch nicht geboren, als 1989 die Mauer fiel – und sich in Berlin nicht nur Deutsche, sondern auch Vietnamesen aus zwei Systemen gegenüberstanden. Die junge Frau wuchs in einem vereinten Land auf, jedoch in der West-Berliner Community der Südvietnamesen, die geprägt ist von Kriegs- und Fluchterfahrungen. Von der Flucht ihres Vaters kennt Diem Tran nur Bruchstücke. Typisch für die Elterngeneration, spricht er kaum darüber, wie er in einem kleinen Boot fast kenterte. Wie so viele wurde er durch die „Cap Anamur“ gerettet, ein Schiff von Privatleuten, aus Deutschland finanziert, das durch das südchinesischen Meer fuhr, um Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu bewahren. Ein Foto des Frachters hängt noch heute im Wohnzimmer von Diem Trans Vater. Für ihn ist es ein Symbol der Rettung; ein Symbol des Neuanfangs.

Südwestlerin. Diem Tran leitet in der Pagode in Spandau eine buddhistische Jugendgruppe.
Südwestlerin. Diem Tran leitet in der Pagode in Spandau eine buddhistische Jugendgruppe.

© David Heerde

Diem Tran ist 23 Jahre alt, studiert Kultur und Technik an der Technischen Universität Berlin, trägt langes Haar und einen Pony, der den oberen Rand der Brillengläser verdeckt. Hier in der Linh-Thuu-Pagode, in einer wenig befahrenen Spandauer Seitenstraße hinter schwedischen Einrichtungswelten, Matratzenriesen und roten Elektrowarenhäusern, leitet sie die buddhistische Jugendgruppe, ist für die 13- bis 17-Jährigen verantwortlich. Seit sie sechs Jahre alt ist, ist Diem Tran Teil der buddhistischen Gemeinde. Ihre Mutter hat sie mitgenommen. Ihr Vater ist kein praktizierender Buddhist. Als sie klein war, traf sich die Gemeinde in einem kleinen Laden in Moabit, damals waren das hauptsächlich Bootsflüchtlinge. Als Zeichen hissten sie die Flagge des südvietnamesischen Staates: gelber Grund mit drei roten Querstreifen. Bis heute ist sie ein politisches Zeichen. Denen, die sich zu ihr bekennen, dient sie als Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit, für eine Abgrenzung zum kommunistischen Vietnam.

Für viele Nordvietnamesen steht diese Flagge für Landesverrat. Die offizielle Flagge zeigt einen gelben Stern auf rotem Grund. Es ist die Fahne, die schon im noch geteilten Land zu Nordvietnam gehörte. Auch diejenigen aus dem Norden, die das Hissen der südvietnamesischen Flagge nicht als Landesverrat empfinden, hüten sich meist vor Orten, an denen sie hängt. Vietnamesen werden auch in Deutschland bespitzelt, wird erzählt, Fehltritte hier können auch zu Problemen für die in Vietnam zurückgebliebenen Familienmitglieder führen. Nordvietnamesen sind also vorsichtig, welche Veranstaltungen sie besuchen.

In der Pagode in Spandau hängen inzwischen nur noch bunte Wimpel. Vor einigen Jahren wurde die südvietnamesische Flagge abgenommen. Man will die Buddhisten Berlins vereinen, offen sein auch für jene Nordvietnamesen, die noch oder wieder den Glauben pflegen oder schlicht am Gemeinschaftsleben teilhaben wollen. Seitdem kommen Jahr für Jahr mehr von ihnen aus dem Ostteil der Stadt. Doch die Kehrseite ist: Südvietnamesen, die ihr politisches Sein nicht abstreifen können, meiden nun die Pagode. Sie können nicht vergessen, wie Südvietnamesen von Nordvietnamesen eingesperrt, gefoltert, vergewaltigt und hingerichtet wurden.

Ein Migrationsvertrag mit Win-Win-Situation

Zentrum des Nordens. Im Dong-Xuan-Center in Lichtenberg kaufen zwar auch Vietnamesen aus dem Süden ein, ein zentraler Treffpunkt ist es für sie aber nicht.
Zentrum des Nordens. Im Dong-Xuan-Center in Lichtenberg kaufen zwar auch Vietnamesen aus dem Süden ein, ein zentraler Treffpunkt ist es für sie aber nicht.

© Kitty Kleist-Heinrich

Fragt man in der Spandauer Pagode die Älteren nach dem Konflikt zwischen der Ost- und West-Community, so antworten sie, dass es das Problem schon lange nicht mehr gebe. Es ist die üblich asiatische Art, über Probleme zu sprechen: Nach außen hin wird geschwiegen, gar ein rosiges Bild gezeichnet. Und doch sind da auch jetzt, wo keine meterhohe Mauer aus Beton mehr die Gemeinschaften trennt, unsichtbare Grenzen. Da sind die vietnamesischen Vereine im Ost- und Westteil der Stadt, die nicht kooperieren. Da ist die südvietnamesische Fahne, die Boat People weiterhin auf ihren Treffen hissen. Und da sind weiterhin nur wenige ehemalige Vertragsarbeiter, die Veranstaltungen besuchen, wenn dort die gelbe Flagge mit den roten Querstreifen weht.

„Jeder hat noch seine Flagge im Kopf“, sagt Diem Tran, die Stimme hoch und kindlich. Sie selbst will den Konflikt hinter sich lassen. Aber auch sie hat die Strategie des Schweigens gewählt. In der Pagode versucht sie das Thema zu vermeiden. Privat spielt es keine Rolle. Diem Tran, aufgewachsen in der West-Community, hat ausschließlich Freunde aus dem Süden. Die Leute aus dem Norden, die meist im Ostteil Berlins wohnen, trifft sie fast nur in der Pagode. Wobei: Was bedeutet das hier – sich treffen?

Nach dem Gebet geht die buddhistische Jugend in den untersten Stock. Jeden Sonntag findet hier Vietnamesischunterricht statt, aufgeteilt nach Sprachniveaus. In einem winzigen Raum, weiß gefliest, im Souterrain, brennen Neonleuchten. An zwei Bierbänken, wie ein L angeordnet, sitzen vier junge Deutschvietnamesinnen auf Plastikstühlen. Der Fortgeschrittenenkurs. Eine gemütliche Frau, die, ebenso wie die einheitlich wie Pfadfinder ausstaffierten Kinder und Jugendlichen, ein blaugraues Hemd trägt, diktiert Gebetssätze, die die jungen Frauen in ein Heft notieren. In der Stille klacken nur die Kugelschreibermienen. Ab und an sind Kinderstimmen aus dem Nebenraum zu hören, die im Chor Worte nachrufen, die eine Männerstimme ihnen vorsagt.

Die Schülerin Huong Giang beugt sich über ihr Blatt und weiß: Sie hat viele Fehler gemacht. Für die 17-Jährige ist der Unterricht besonders schwer. Sie ist die einzige Nordvietnamesin in dem Kurs, und wer Vietnamesisch versteht, hört ihren Dialekt. Nordvietnamesisch und Südvietnamesisch sind in etwa wie Hochdeutsch und Bayerisch. Und während ihre Freunde in Ost-Berlin sie nur Sang nennen, ist sie in der Pagode Jang. Nur ein Buchstabe, der eine Identität verändert.

Nordvietnamesisch und Südvietnamesisch sind wie Hochdeutsch und Bayerisch

Huong Giang ist im Osten Berlins aufgewachsen, in Marzahn. In einer vietnamesischen Community, die sich nach dem Ende der DDR neu finden musste. Nach dem Mauerfall wurden viele DDR-Betriebe geschlossen, und das bedeutete für viele Vietnamesen wie auch für viele Ostdeutsche Arbeitslosigkeit. Fast 70.000 Vietnamesen waren in den Achtzigern in die DDR gekommen: Der Staat brauchte mehr Arbeitskräfte für die Industrie, während in Vietnam gleichzeitig große Arbeitslosigkeit herrschte. Ein Migrationsvertrag mit Win-win-Situation.

Voll konzentriert. Nordvietnamesin Huong Giang lernt in der Pagode einen anderen Dialekt.
Voll konzentriert. Nordvietnamesin Huong Giang lernt in der Pagode einen anderen Dialekt.

© David Heerde

Nach 1989 konnte nur ohne größere Schwierigkeiten in der Bundesrepublik bleiben, wer seinen Lebensunterhalt selbst bestritt. In Berlin galt die Regel: Eine vietnamesische Familie musste mindestens den Satz der Sozialhilfe vorweisen, die Miete und zusätzlich zehn Prozent davon. Jedem, der in die Heimat zurückging, bot die Bundesrepublik 3000 Deutsche Mark. Etwa 80 Prozent der Vietnamesen aus der ehemaligen DDR nahmen das Angebot an. Oft ohne zu wissen, dass es überhaupt die Möglichkeit gab, weiter in Deutschland zu bleiben. Viele Betriebe hatten die Vertragsarbeiter darüber nicht informiert, schürten mancherorts sogar Ängste vor dem Kapitalismus und organisierten Rückreisen. Die wenigen Arbeiter, die blieben, warteten bis 1997 auf Rechtssicherheit in Deutschland. Bis dahin lebten sie mit der deutsch-deutschen Grenze: Sie durften nur in den neuen Bundesländern arbeiten.

In dieser Zeit versuchten die meisten der in Deutschland gebliebenen Nordvietnamesen, die politische Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Familie finanziell abzusichern, hatte oberste Priorität – und für dieses Ziel waren manchen auch unlautere Mittel recht. Einige begannen, illegal Zigaretten zu verkaufen. Ihre ehemaligen Wohnheime, in denen sie während der DDR einquartiert wurden, nutzten sie als Umschlagsplätze. Videos des Zolls aus der Zeit zeigen, wie Vietnamesen aus einem Kofferraum prall gefüllte Reisetaschen auf einen Balkon werfen. Allein 1992 wurden in Berlin 40.000 Stangen Zigaretten illegal verkauft. Zwischen rivalisierenden Banden entstanden brutale Kämpfe um die Macht auf dem Schwarzmarkt. Bis 1996 wurden in Berlin 39 Vietnamesen ermordet, zum Teil richtiggehend hingerichtet. „Fidschis“ – dieses Schimpfwort verbreitete sich in Berlin für Vietnamesen, die an Bahnhöfen illegal Zigaretten verkauften, die Ware oft in Gebüschen versteckt. Schon vor der Wende hatten DDR-Bürger Vertragsarbeiter aus Vietnam mit diesem Wort diskriminiert. Nun übertrug sich das negative Image der Vietnamesen aus dem Osten Berlins auch auf die Boat People im Westen. Plötzlich sprachen Passanten sie an, ob sie Zigaretten verkauften. Die „Kommunisten“, so empfanden es nicht wenige Südvietnamesen, zerrütteten das positive Bild, das bis dahin von ihnen bestand. Die Annäherung der beiden Communitys wurde nicht zuletzt dadurch empfindlich gestört.

Die Nonnen raten, den Konflikt einfach wegzuschieben

Klein-Vietnam. Die Linh-Thuu-Pagode in Berlin-Spandau.
Klein-Vietnam. Die Linh-Thuu-Pagode in Berlin-Spandau.

© David Heerde

Die Eltern der Schülerin Huong Giang kamen in den Achtzigern als Vertragsarbeiter in die DDR. Ihre Mutter arbeitete in einer Wäscherei, heute ist sie Reinigungskraft. Ihr Vater ist Florist. Bis vor wenigen Monaten hatte Huong Giang den Konflikt nie richtig wahrgenommen. Erst als ihre Mutter sie mit zur Pagode in Spandau nahm, wurde ihr die Teilung wirklich bewusst. Seitdem ist die 17-Jährige auf der Suche nach Wegen, die Vergangenheit ihrer Eltern mit ihrer eigenen Identität in Einklang zu bringen. „Da will ich nicht hin“, hatte sie etwa reflexhaft gesagt, als sie erfuhr, dass die buddhistische Jugendgruppe aus Spandau zu einer Veranstaltung gehen sollte, auf der eine südvietnamesische Flagge hängen sollte. Ihre Mutter, die wie so viele versucht, die Politik hinter sich zu lassen, stellte ihr die Entscheidung frei. Die buddhistischen Nonnen in der Pagode empfahlen Huong Giang, sie solle nicht an das Band der Geschichte anknüpfen. Sie sei hier geboren, habe nichts mit dem Konflikt ihrer Eltern zu tun.

Und doch begegnet er ihr im Alltag. Vor kurzem war sie auf dem 16. Geburtstag einer Freundin in Marzahn, erzählt sie. Bei Sushi und Wan-Tan-Suppe haben sie gefeiert, in einem Jugendzimmer, wo viele Familienfotos an den Wänden hängen. Ihre Freunde sind wie sie Kinder von Vertragsarbeitern. Sie alle sind zusammen im Osten Berlins aufgewachsen. Bei der Feier rief Huong Giang den Namen des Geburtstagskinds – südvietnamesisch ausgesprochen, Nachwehen des Sprachunterrichts in der Pagode. „Warum redest du so?“, fragte einer ihrer Sandkastenfreunde. Huong Giang konnte nicht antworten. Ein Moment der Stille entstand. „Okay, lass uns über etwas anderes reden“, sagte der Freund dann.

Und so versucht Huong Giang bis heute, die Worte der buddhistischen Nonnen zu verinnerlichen und den Nord-Süd-Konflikt von sich wegzuschieben. Eine Veranstaltung zu meiden, nur wegen einer Flagge, wie sie es seinerzeit schließlich tat? „Da habe ich überreagiert“, sagt sie heute. Also würde sie jetzt zu einer Veranstaltung mit der Fahne des Südens gehen? „Ich weiß es nicht“, antwortet sie. Darüber müsse sie noch einmal nachdenken. Sie habe einfach Angst, dort nicht akzeptiert zu werden.

Es gibt kaum Vietnamesen, die sich aktiv für eine vietnamesische Wiedervereinigung in Deutschland engagieren. Diejenigen, die in Berlin dafür kämpfen, wollen anonym bleiben, um Ärger aus dem Weg zu gehen. Ihre Namen sind bekannt in den Communitys. Nicht weil sie öffentlich Vorträge zu dem Thema halten – so weit sei die Annäherung noch lange nicht, sagt eine Vietnamesin aus dem Süden. Sondern weil sie auf Festen in Gesprächen das Thema suchen, zu dem viele lieber schweigen. Diejenigen aus dem Süden, die versuchen, auf die Nord-Community zuzugehen, werden auf Veranstaltungen oft laut beschimpft, mal als Verbündete der Vertragsarbeiter, mal als Kommunisten. Daher haben sie wenig Zuversicht, dass die Barrieren in den Köpfen der Alten eingerissen werden. Sie setzen auf die junge Generation.

Menschen wie Thanh Thùy Luong sind Teil der Hoffnung. Die 31-Jährige ist im vereinten, kommunistischen Vietnam geboren, mit acht Jahren nach Ost-Berlin gekommen. Sie hat Südostasienwissenschaften studiert und ist so in die Geschichte Vietnams getaucht – unabhängig von den Erzählungen ihrer Eltern. Ihre Mutter kam als Vertragsarbeiterin in die DDR, ihr Vater und sie folgten nach der Wende ins wiedervereinigte Deutschland. Eine Familienzusammenführung.

Wissen vermitteln. Thanh Thùy Luong gehört zu denen, die offener über ihre Identität sprechen.
Wissen vermitteln. Thanh Thùy Luong gehört zu denen, die offener über ihre Identität sprechen.

© Kai-Uwe Heinrich

"Die Vietnamesen in Berlin können problemlos nebeneinander herleben."

Heute arbeitet Thanh Thùy Luong an einer Schule in Marzahn. 20 Prozent ihrer Schüler haben eine vietnamesische Zuwanderungsgeschichte. Anfangs war sie als Kulturdolmetscherin angestellt, sollte für die Eltern der Vietnamesischstämmigen übersetzen, das Schulsystem erklären und den Lehrern nahebringen, wie sich die vietnamesische Kultur auf das Lernen der Jungen und Mädchen auswirkt. So haben viele Schüler zu Hause nicht gelernt zu diskutieren und sind oft ruhig im Unterricht. Inzwischen hat Thanh Thùy Luong auf der Schule Vietnamesisch als Fremdsprache aufgebaut. Und sogar ein eigenes Schulfach entwickelt, das allen Schülern Vietnam näherbringen soll. Und auch für den in den vietnamesischen Elternhäusern totgeschwiegenen Nord-Süd-Konflikt sensibilisiert sie.

Thanh Thùy Luong ist vorsichtig, wenn sie über das Thema spricht, macht oft Pausen, wiegt ihre Worte. Sie will niemandem zu nahe treten. Die 31-Jährige ist keine Avantgardistin der vietnamesischen Wiedervereinigung auf deutschem Boden, die Mauer in den Köpfen sei weiterhin hoch – auch weil man sich das erlauben könne. „Die Deutschen waren und sind gezwungen, aufeinander zuzugehen“, sagt Thanh Thùy Luong. Schließlich lebten sie in einem Land, das sie gemeinsam gestalten wollten, hätten die gleiche Regierung. „Die Vietnamesen in Berlin können problemlos nebeneinander herleben.“ Und das täten sie auch. Sicherlich gebe es manchmal ein Aufeinanderzugehen, wenn es beispielsweise um Geschäftliches gehe. Nie aber bei Politischem.

An diesem Sonntag steht Thanh Thùy Luong in den Hallen des Dong-Xuan-Centers in Lichtenberg. An der Toreinfahrt auf das Gelände mit den großen Hallen wehen links zwei Deutschlandfahnen, rechts flattert die Flagge der Sozialistischen Republik Vietnam, rot mit dem gelben Stern. „Klein-Hanoi“ wird das Center auch genannt. Thanh Thùy Luong bezeichnet es lieber als Zentrum der Vertragsarbeiter-Community. „Nord“ sei gleich so politisch. „Es war einmal meine Welt“, sagt sie. Als Kind konnte sie sich nichts Besseres vorstellen, als in der vietnamesischen Gemeinschaft zu leben. Durch ihr Studium habe sie einen Außenblick bekommen. „Nun bin ich mit einem Fuß drinnen und mit dem anderen draußen.“

Das Dong-Xuan-Center liegt im abgelegeneren Teil Lichtenbergs, wo nur die Straßenbahn fährt. Mitten in einem Gewerbegebiet, in der Nähe von Plattenbauten, die wie viele nach der Wende eine farbige Maske bekamen. Als bräuchte der Osten einen kosmetischen Anstrich, um erträglich zu sein. Fast 5000 Vietnamesen leben hier im Bezirk. Noch mehr junge Deutsche mit vietnamesischer Zuwanderungsgeschichte. So viele wie sonst nirgends in Berlin.

Ein Nebeneinander, kein Miteinander

Die Community aus ehemaligen Vertragsarbeitern hält enger zusammen als die der Bootsflüchtlinge in West-Berlin, was auch mit ihrem Kampf um Aufenthaltsrecht nach der Wende zu tun hat. Viele machten sich in dieser Zeit selbstständig, um bleiben zu können. Als man sich beim Einkaufen auf Großmärkten in Polen traf, entstand die Idee, einen eigenen Großmarkt in Berlin zu eröffnen: das Dong-Xuan-Center. Auch die Eltern von Thanh Thùy Luong holten hier die Textilien, die sie auf Märkten verkauften, bei Wind und Wetter.

Thanh Thùy Luong ist als Übersetzerin für eine Ausbildungsmesse gebucht, die zum ersten Mal im Zentrum der Nordvietnamesen stattfindet. Sie läuft in ihren grünen Absatzschuhen durch die Hallen, das Interieur mit den weißen Stellwänden gibt dem inzwischen alteingessenen Markt bis heute etwas Provisorisches. Hier wird Kleidung in Zehnerpacks verkauft, Tische für Nagelstudios, zentnerweise Reis. Zwischendrin gibt es Restaurants und Friseurläden. Thanh Thùy Luong spricht junge Vietnamesen an, um auf die Ausbildungsmesse hinzuweisen. Die Community will ihnen und den Eltern das deutsche Ausbildungssystem näherbringen. In den vietnamesischen Familien besteht noch immer das Bild, dass allein ein Studium zählt. Und so stehen hinter dem großen Parkplatz Stände aus Holz: die Polizei, das Evangelische Krankenhaus, das nur wenige Haltestellen entfernt liegt, und auch das Bezirksamt Lichtenberg stellen ihre Berufsausbildungen vor.

An diesem Ort sind alle Dialekte zu hören, auch ehemalige Boat People gehen heute in den Hallen einkaufen. Aber für mehr reicht es nicht. „Es ist auch hier eher ein Nebeneinander“, sagt Thanh Thùy Luong. Und auch sie weiß: Die erste Generation, die nach Deutschland kam, wird schwer oder gar nie zusammenfinden. Dennoch hofft sie weiter, dass die Menschen es irgendwann schaffen, keinen Groll mehr zu hegen. „Sie alle waren schließlich Opfer von politischen Entscheidungen“, sagt sie.

Reden über die unsichtbare Mauer

Halle für alle. Im Dong-Xuan-Center kaufen Vietnamesen aus beiden Landeshälften ein - bleiben aber trotzdem jeweils für sich.
Halle für alle. Im Dong-Xuan-Center kaufen Vietnamesen aus beiden Landeshälften ein - bleiben aber trotzdem jeweils für sich.

© Kitty-Kleist Heinrich

In Berlin hat Thanh Thùy Luong keinen Kontakt zur West-Community. Dass sich Nord- und Südvietnamesen sehr ähnlich sind, lernte sie, als sie 2012 nach Ronneburg fuhr, in die Nähe von Frankfurt am Main. Ein Verein junger Deutsch-Vietnamesen hatte zu der Tagung eingeladen. Man wollte eine Plattform bieten, um über die unsichtbare Mauer zu reden, die auch zwischen der jungen Generation in den alten und neuen Bundesländern besteht. Mit 60 Deutsch-Vietnamesen, die meisten Kinder von ehemaligen Bootsflüchtlingen, diskutierte Thanh Thùy Luong mehrere Tage über Vietnamesen in Ost und West. Es war das erste Treffen speziell zu diesem Thema – und bis jetzt das einzige.

In besonderer Erinnerung ist ihr der Vortrag des Journalisten Rupert Neudeck geblieben, der als Redner eingeladen war. Vor allem in der südvietnamesischen Community ist der heute 85-Jährige bekannt. Er war es, der in den siebziger Jahren mit der „Cap Anamur“ flüchtige Vietnamesen aus dem Meer rettete. Noch heute engagiert er sich für die Vietnamesen in Deutschland. Fotos zeigen den Journalisten mit gestutztem schneeweißem Vollbart, wie er vor den jungen Vietnamesen spricht, ein Mikro in der einen Hand, die andere in die Hüfte gestützt. Thanh Thùy Luong zitiert einen für sie entscheidenden Satz Neudecks: Die ältere Generation werde die südvietnamesische Flagge nicht ablegen, habe er gesagt. Für ein Miteinander müsse sie aber zur Erinnerung werden.

Um die Flagge umzudeuten, setzte sich eine Gruppe junger Vietnamesen zusammen, man wollte Ideen für eine eigene Flagge sammeln, eine Flagge der jungen Generation. Fotos zeigen das Ergebnis. An einer Pinnwand hängen gelbe Karten, bemalt mit rotem Filz: drei Querstriche mit einem Violinschlüssel verziert, als seien es Notenlinien; drei kurze Querstriche wie ein Mikrowellenzeichen; ein Stern in einem Quadrat – keine ist, was möglich gewesen wäre, frei assoziiert, alle orientieren sich an der süd- oder nordvietnamesischen Flagge. Und doch ist das der Versuch, die politisch besetzten Flaggen hinter sich zu lassen. Um so den Weg für etwas zu ebnen, das es immer noch kaum gibt: ein privates Beisammensein junger Nord- und Südvietnamesen.

Lan Anh Nguyen legt ihren Kopf an Huy Aus Schulter. Die Rolltreppen heben sie in die obere Etage des Einkaufszentrums, in den Ostflügel. Einmal die Woche geht das Paar zum Essen ins Alexa am Alexanderplatz. Seit fast zwei Jahren sind sie zusammen. Sie, Tochter von Südvietnamesen, er, Sohn von Nordvietnamesen.

"Backy-Boy" nennt sie ihn: "bac", nord, ihr Junge aus dem Norden

Sie haben sich an der Hochschule für Wirtschaft und Recht kennengelernt. Beide studieren dort Betriebswirtschaftlehre, interessieren sich für Marketing. Als er sie in der Bibliothek das erste Mal sah, war er gleich von ihr eingenommen: schwarzes langes Haar, schlank. Lanny, so nennen sie die 24-Jährige im Freundeskreis. Sie jedoch fand ihn zunächst zu klein und zu dünn. Dennoch hat Huy Au ihr Herz erobert: In etwa drei Jahren wollen sie heiraten, wenn beide mit dem Studium fertig sind. Das steht schon jetzt fest.

Die beiden haben an einem Tisch zwischen pausierenden Touristen und Berlinern Platz genommen. Nur einige Plätze neben ihnen sitzen zwei junge Vietnamesen vor leeren Plastikbechern. Es ist ein Treffpunkt für die junge Generation, erklärt Lan Anh Nguyen. Es gibt ihn, seit Jugendliche sich über die Online-Plattform Asiancy, das Facebook für Asiaten, verabredeten, um andere Vietnamesen in Berlin kennenzulernen. Ohne es forciert zu haben, trafen sich dort die Jungen aus beiden Communitys. Seitdem ist der Alexanderplatz Begegnungsstätte. Ein Ort, gefühlt auf halber Strecke zwischen Lichtenberg und der City-West.

„In unserer Generation spielen Süd und Nord keine Rolle mehr“, sagt Lan Anh Nguyen und meint dabei mehr sich selbst als ihre Generation. Nur wenig später erzählt sie von ehemaligen Freunden, die bestimmt das Gesicht verzögen, wenn sie erführen, dass sie einen Nordvietnamesen liebt. Solche Bekannte hat Lanny inzwischen nicht mehr. Aber diese Denkweise gibt es eben noch, auch bei den Jungen.

Huy Au will ebenfalls glauben, dass der Nord-Süd-Konflikt überwunden ist, schließlich seien er und seine Freundin Lanny der Beweis. Doch dann zitiert er Beleidigungen von einer Asia-Party, auf der die zweite Generation zusammen feiert. Einmal im Monat findet sie statt, immer in einem anderen Berliner Club. Er selbst kommt nicht aus Berlin, hat Freunde mit ganz unterschiedlichen Zuwanderungsgeschichten. Vor einem Jahr waren sie dort, saßen auf einem Sofa, als sich plötzlich zwei Gruppen angingen und schrien: „Ich ficke deine Mutter!“ „Du Hurensohn! Du Südvietnamese!“ Aber so etwas entstehe nur in der Gruppe und unter Alkohol, betont Huy Au.

Wie Huy Au und Lan Anh Nguyen wünschen sich wohl viele aus der jungen Generation, die Kluft zwischen Nord- und Südvietnamesen hinter sich zu lassen. Und doch machen auch ihre Erzählungen klar: Der Konflikt, den die erste Generation mit nach Berlin brachte, besteht weiter. Was die vietnamesische Wiedervereinigung im Vergleich zur deutschen erschwert: Es gab keine friedliche Revolution, sondern unzählige Tote auf beiden Seiten. Dass sich die Communitys bis heute langsam aufeinander zubewegen, scheint da verständlich. Zu schwer wiegt das Leid. Und doch gibt es inzwischen Verbindungen, die Hoffnung machen. Das Paar, Huy Au und Lan Anh Nguyen, lebt noch nicht zusammen, aber beide wohnen in Lichtenberg, um einander nah zu sein. Backy-Boy nennt Lan Anh Nguyen ihn: „bac“, nord, ihr Junge aus dem Norden. Noch heute wird es von Südvietnamesen als Schimpfwort verwendet. Lanny nutzt es, um Huy zu liebkosen.

Dieser Text ist in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

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