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Für viele verletzte Kinder gibt es im Gazastreifen keine Behandlungsmöglichkeiten.

© Oliver Weiken/dpa

Update

Verletzte aus dem Gazastreifen: Hilfe in Deutschland für die Kinder des Krieges

Die "Palästinensische Ärzte- und Apothekervereinigung Berlin-Brandenburg" bringt schwerstverletzte Kinder in Krankenhäuser. Alles dank Spender und Ehrenamtlichen.

Es war einer dieser Momente im Leben, in denen der Berliner Jalal Othman dachte: Was um alles in der Welt machst Du eigentlich?

Auf der Fahrt durch den Sinai weinten in den Krankentransportwagen die 42 schwer kriegsverletzten und kranken Kinder vor Angst und Schmerzen. Den Medizinern und Helfern als ehrenamtlichen Begleitern liefen auch die Tränen. Und dann traf mitten auf dem Sinai ein Schuss einen Reifen, und draußen stand rundum Militär. Der Fahrer des Krankenwagens mit den jungen Patienten ganz ohne Eltern unterwegs in Kliniken im so weit entfernten Deutschland, drehte sich um zu dem Arzt aus Berlin, guckte ihm in die Augen und sagte: „Du kannst jetzt für mich beten. Ich gehe raus, den Reifen wechseln, und ich hoffe, ich steige wieder ein.“

Das Geräusch, mit dem der Fahrer das kaputte Rad hinten ins Auto wuchtete, wird der Neurologe aus Tiergarten nie vergessen. Und noch heute werden die Augen feucht, wenn er von dem Erlebnis von vor drei Jahren erzählt: „Diese fünf Minuten des Stillstehens waren gefühlte fünf Stunden.“

Hilfe aus Deutschland

Seit mehreren Jahren holt der Verein „Palästinensische Ärzte- und Apothekervereinigung Berlin-Brandenburg“ dank Spendengeldern schwerstkranke oder -verletzte Kinder aus dem Gazastreifen in Krankenhäuser nach Deutschland, in die Schweiz und nach Österreich. Dort werden Kinder gegen einen symbolischen Beitrag oder ganz ohne Zahlungsaufforderung operiert, für die es bei den minimalen Möglichkeiten im Gazastreifen weder eine Behandlung noch Perspektive gibt. In den umliegenden Ländern und Gebieten wie dem Westjordanland oder den Flüchtlingslagern im Libanon kann der Ärzte- und Apothekerverein aus Berlin und Brandenburg in der Regel humanitär helfen, indem Mediziner direkt dorthin fliegen und behandeln oder operieren. „Gaza ist aber ein besonderer Fall, denn wir haben wegen der strengen Blockade seit Jahren das Problem, dass dort kaum ein ausländischer Arzt hineingekommen ist“, berichtet Jalal Othman, der Vorstandsvorsitzende des Hilfsvereins. Es sei so gut wie unmöglich, internationale Spezialisten nach Gaza zu schicken, wo es zudem keine entsprechenden OP-Möglichkeiten gebe.

Die oft hoch riskante Hilfe für die Mädchen und Jungen als unschuldige Opfer der politischen Machtkämpfe sei aber alle Mühen und Gefahren wert, sagt der Familienvater aus Tiergarten. Mit Othman engagieren sich rund 40 aktive Mitglieder im Medizinerverein. Der heute 39-Jährige war im November 1995 aus Nablus im Westjordanland in Palästina zum Studium der Medizin an der Freien Universität beziehungsweise der Charité nach Berlin gekommen. Heute ist der Facharzt für Neurologie Oberarzt im Asklepios Fachklinikum Teupitz. Schon in der Studienzeit habe er eine sozial aktive Studentenvereinigung mitgegründet.

Viele Tagesspiegel-Leser unter den Spendern

Heute hat er gemeinsam mit anderen Helfern wie Krankenschwestern und ehrenamtlichen Betreuern schon mehr als 100 Kindern aus dem Gazastreifen geholfen zu überleben, oder wenigstens weniger entstellt aufzuwachsen. „Wir danken auch sehr herzlich allen Tagesspiegelleserinnen und -lesern, die uns selbst mit der Überweisung von 10 oder 20 Euro geholfen haben.“ Nach dem ersten Bericht in dieser Zeitung von vor acht Jahren – aber auch der RBB-Abendschau und in Schweizer Medien – seien in den vergangenen Jahren mehr als 75 000 Euro Spendengelder zusammen gekommen. „Der größte Teil kam von Tagesspiegellesern, dafür herzlichen Dank“, sagt Yaser Alshrafi, der in Spandau die Zeppelin-Apotheke betreibt und mit Othman bei der Hilfsvereinigung wirkt. In der Zeppelin-Apotheke blättert Alshrafi mit einer Ehrenamtlichen, die den Verwaltungskram erledigt, durch die Ordner der Hilfsaktionen. Mit den Spenden werden die Flüge bezahlt, die sie manchmal verfallen lassen müssen, weil eine Einreise- oder Ausreisegenehmigung doch nicht oder erst zu spät erteilt werde. Es können wegen der hohen Kosten infolge der teils monatelangen Behandlung und Unterbringung in Europa in aller Regel nur die Kinder fliegen. „Wir wollen vor allem armen Familien helfen, und für alle Eltern ist es eine erhebliche Überwindung, ihre Kinder so lange allein in die Ferne zu schicken“, sagt Jalal Othman.

Apotheker Alshrafi hat dem Tagesspiegel auf Nachfrage schon immer versichert, dass die Hilfsaktionen nicht etwa gezielt politischen oder militärischen Kreisen zugute kämen und dass der Hilfsverein politisch unabhängig und rein humanitär tätig sei und auch kriegsverletzten Kindern aus Israel helfen würde, wenn entsprechende Anfragen kämen. Heute ist sein Handy voll von schrecklich anzusehenden Diagnose- und Bewerbungsfotos sowie Dankes-Nachrichten von Eltern und Kindern. Die Familien unterstützen es, dass die Welt außerhalb von Gaza auch im Bild sieht, was Kinder erleiden. Der Gazastreifen ist gerade mal 40 Kilometer lang und nur bis zu 14 Kilometer breit. Die Art und Weise, wie die sich der hiesige Verein dort engagiert, ist Othman zufolge einzigartig. Der Apotheker Yaser Alshrafi ist in Gaza geboren, er weiß, wie die Dinge laufen, sagt er mit einem wissenden Lächeln. Damit nicht etwa Privilegierte von der Hilfe profitieren, gibt es Othman zufolge mehrere Stufen bei der Patientenauswahl.

Nabil ist sieben, seine Verletzungen werden gerade in München behandelt.
Nabil ist sieben, seine Verletzungen werden gerade in München behandelt.

© privat

So kooperiere der Hilfsverein mit dem ärztlichen Dienst in Gaza. Die Menschen wüssten auch über Mundpropaganda, dass Eltern mit wenig Geld ihre Kinder zwei Kollegen, die ihren Facharzt in Deutschland gemacht haben, nämlich einem Unfallchirurgen und einem Kinderarzt, vorstellen könnten. Diese Ärzte schreiben laut Othman Anamneseberichte, fügen alle verfügbaren Röntgen- und MRT-Aufnahmen bei und leiten die Fälle an die Ärzte in Berlin und Brandenburg weiter. Diese stellen die Patientenakten jenen Kliniken Berlin, München oder Düsseldorf, in Zürich oder Wien vor.

Teils reichen die immer dringend benötigten Spendengelder für die teils monatelange Unterbringung der Kinder nahe der Kliniken oder sehr kostenintensive Operationen nicht. Dann müsse sich der Verein dazu entscheiden, teils weniger schwer verletzte Patienten herzufliegen, deren Behandlung kürzer dauert. Die Mehrzahl seien Opfer von Bomben, Feuer oder Beschuss. Aber es würden auch Kinder mit Genehmigung der isrealischen Behörden transportiert und hierher geflogen, die an schweren chronischen Krankheiten leiden, die in Gaza niemals zu behandeln wären. Dabei ergibt sich eine unerwartete Win-win-Situation für beide Seiten: Viele Kliniken schätzten es den Umständen entsprechend auch, dass sie junge Ärzte mit hochkomplizierten Fällen weiterqualifizieren könnten, die ihnen sonst in diesen Breitengraden nicht vorgestellt würden.

Shams ist elf, sie bekommt dank spezieller medizinischer Verfahren wieder Haare.
Shams ist elf, sie bekommt dank spezieller medizinischer Verfahren wieder Haare.

© privat

Viele Partner konnten die Berliner und Brandenburger Mediziner in den vergangenen Jahren schon für eine Zusammenarbeit gewinnen, denen sie herzlich danken. Sie lieferten unter großen Schwierigkeiten Container mit medizinischen Hilfsgütern mithilfe der internationalen „Notapotheke der Welt“, Action Medeor, in die Region. Sie werden von der Stiftung Friedensdorf International in Oberhausen unterstützt. Sie haben sogar eine erste „German Electronic Kita“ mit Integrationsangeboten für behinderte Kinder einrichten können – wegen der dort erhöhten Sicherheit im Grenzgebiet zu Ägypten. Es sollen zwei weitere folgen, derzeit laufen Bewerbungen und Abstimmungen mit dem Service für Entwicklungsinitiativen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, „Engagement Global“.

Yaser Alshrafi hat noch viel mehr Visionen und sagt, diese Hilfe mache ihn menschlich einfach glücklich. Und Jalal Othman sagt: „Helfen ist für mich wie eine Sucht. Aber eine sehr schöne.“

Kontakt zur Palästinensischen Ärzte- und Apothekervereinigung Berlin-Brandenburg über Tel. 0176 78215843; jalalothman@hotmail.com oder paavbb@yahoo.de. Das Spendenkonto lautet: Palästinensische Ärzte- und Apothekervereinung Berlin-Brandenburg e.V., Stichwort: Gaza-Kinder, Deutsche Apotheker und Ärztebank, IBAN DE73300606010007752539, BIC DAAEDEDDXXX

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