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Der Kampf um die Zukunft des Bezirks ist an jeder Ecke zu sehen - und zu lesen.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo die Mauer ewig währt

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 24: Friedrichshain.

Um den Touristen klarzumachen, wo sie gelandet sind, haben Berlins Verkehrslenker vor der East Side Gallery eine Schikane eingebaut: Etwa hundert Meter weit verläuft hier der Fahrradweg über den Bürgersteig. Natürlich nimmt kein Tourist die Markierung wahr, die Leute schauen ja die Mauer an. Klingelnd und pöbelnd kämpfen sich sture Berliner Fahrradfahrer durch die Massen: „Eeeeey! Fuck you, fucking tourists!“ Als Gast bekommt man hier einen ganz guten, nämlich schlechten Eindruck vom Sozialverhalten der Einheimischen.

Ist überhaupt eine merkwürdige Ecke, diese East Side Gallery. Auf dem Grünstreifen zwischen Mauer und Spree, in Steinwurf-, aber außer Sichtweite der Touristen, entdeckte ich zwei Dutzend Zelte, in denen Obdachlose kampierten. „Hinten die Polen, daneben die Rumänen, hier die Deutschen“, erklärten mir drei ältere Tippelbrüder namens Paul, Uwe und Karl-Heinz. Alle waren östlich der Mauer aufgewachsen und lachten mich aus, als ich fragte, ob es in der DDR Obdachlose gegeben habe. „Natürlich gab’s uns!“

Graffito an der Hinterseite der East Side Gallery.
Graffito an der Hinterseite der East Side Gallery.

© Jens Mühling

Ihr Zeltlager, erzählten sie, sei vor zwei Jahren entstanden. Ab und zu verjage sie das Ordnungsamt, dann schliefen sie vorübergehend anderswo, bis die Luft wieder rein sei. „Das Amt kommt immer, wenn die feinen Leute über uns schimpfen“, sagte Paul. „Was für feine Leute?“, fragte ich. Stumm deuteten die drei auf den Luxuswohnturm am anderen Ende des Grünstreifens, dessen weiße Silhouette hier etwa gleichzeitig mit dem Zeltlager aufgetaucht ist.

Am obersten der 14 Stockwerke sah ich ein Werbebanner mit einer Telefonnummer hängen. Aus Neugier rief ich an. Ab 14000 Euro pro Quadratmeter seien noch Wohnungen zu haben, erklärte mir eine freundliche Dame – und nach oben sei je nach Ausstattungswunsch „alles offen“.

An Neubauten in der Rigaer Straße haben Anwohner bereits hilfreiche Tipps hinterlassen.
An Neubauten in der Rigaer Straße haben Anwohner bereits hilfreiche Tipps hinterlassen.

© Jens Mühling

Am Boxhagener Platz aß ich ein New-York-Style Grilled Sandwich mit Pastrami, frittiertem Reispapier und Dinkeltoast und belauschte kauend die krakeelenden Trinker neben dem Kinderspielplatz. Irre, welche Gegensätze dieser Ortsteil einigermaßen unbeschadet aushält, dachte ich. Dabei lagen da die Karl-Marx-Allee mit ihren greisen DDR-Bonzen noch vor mir, die Rigaer Straße mit ihren Aggro-Punks, die Dealer an der Warschauer Brücke, das Plattenbau-Proletariat rund um die Petersburger, die zugedrogten Party-Touris auf dem RAW-Gelände, die Volkspark-Jogger und Berghain-Hipster, die Hippie-Mamis und Yuppie-Papis und all die anderen stinknormalen Friedrichshainer.

In der Rigaer blockierte eine Großbaustelle den Weg vom Ost- in den Westteil der Straße – Grund genug, die Sperrung mit „der Mauer“ zu vergleichen, wie es ein Flyer im Infokasten eines alternativen Wohnprojekts tat. Der Text lud zum allabendlichen „Mega-Scheppern“ am Bauzaun ein. Als ich mich um 19 Uhr dort einfand, waren nur drei Frauen gekommen. Eine vierte, die eigentlich Schepper-Utensilien mitbringen sollte, war nicht aufgetaucht, weshalb eine der Frauen mit ihrem Schlüsselbund einen Protestrhythmus auf ein Straßenschild hämmerte. Von der anderen Seite der Baustelle antwortete das Dengeln eines Kochtopfs. Zwei Gäste auf der Terrasse des Restaurants „Burgerwehr“ guckten irritiert. „Geht um den Mauerbau“, rief ihnen die Frau mit dem Schlüsselbund zu.

Fläche: 9,78 km² (Platz 36 von 96)

Einwohner: 127 189 (Platz 4 von 96)

Durchschnittsalter: 37,4 (Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Friedrich der Große (Namensgeber), Simon Dach (Barockdichter)

Gefühlte Mitte: Boxhagener Platz

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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