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In Friedrichshagen zu wohnen, können sich die meisten Poeten heute nicht mehr leisten.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo die Dichter dichter sind

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 23: Friedrichshagen.

In der Lindenallee riss mich eine knarzige Stimme aus meinen Tagträumen. Mit verrenktem Hals und bewundernden Blicken war ich zwischen den alten Villen von Friedrichshagen entlangflaniert und hatte mir vorgestellt, wie es wohl wäre, am Müggelsee zu wohnen – bis plötzlich ein Mann mit weißem Vollbart und quergestreiftem Seebärenpulli vor mir stand. „Schön hier, wa?“, knurrte er. Ich nickte stumm. „Hätten Sie mal früher sehen sollen“, fuhr er fort. „Von Schönheit keine Spur. Bröckelte alles vor sich hin, als ob die Partei die Villen loswerden wollte. In der Friedensbewegung haben wir Witze drüber gemacht: Ruinen schaffen ohne Waffen!“

Als der Mann seiner Wege ging, versuchte ich, mir den Ortsteil im verfallenen DDR-Zustand vorzustellen, aber ich schaffte es nicht. Die Fassaden waren zu sauber, zu glatt, zu bunt, die restaurierten Villen wirkten wie die Traumimmobilien wohlhabender Segelbootbesitzer – was sie heute ja auch sind. Erst im Antiquariat Brandel an der Scharnweberstraße stieß ich auf einen Friedrichshagen-Band mit Schwarz-Weiß-Fotos aus der DDR-Ära, aber anders als in den Schilderungen des friedensbewegten Müggelseebären wirkte der blätternde Putz auf den Bildern nicht trist, sondern romantisch.

Die Antiquarin war eine zauberhafte Frau. Ihren Buchladen hatte sie in eine Art Tempel und Museum des „Friedrichshagener Dichterkreises“ verwandelt, jenes Schriftstellerbundes, der sich im späten 19. Jahrhundert hier formierte. Wilhelm Bölsche und Bruno Wille waren damals die ersten, die aus Berlin ins Grüne zogen, nachdem ihnen Gerhart Hauptmann, der schon länger in Erkner lebte, eingeflüstert hatte, dass man als armer Poet im Umland viel billiger wohnte. Bald schlossen sich den beiden „andere Musenverehrer an, die entweder von ihrer Feder lebten oder vom väterlichen Vermögen oder endlich von der frischen Luft“. So drückte es Wille in seinen Memoiren aus, die er nach einem Zwist mit dem Friedrichshagener Amtsvorsteher im örtlichen Knast zu Papier brachte. Sein galgenhumoriges Buch „Das Gefängnis zum preußischen Adler“ fand ich abends in meiner Tasche, obwohl ich es gar nicht gekauft hatte – die listige Antiquarin hatte es mir unbemerkt ins Gepäck gesteckt, um den Ruhm ihres geliebten Dichterkreises in die Welt zu tragen.

Gekauft hatte ich eigentlich nur den Roman „Levins Mühle“ des DDR-Schriftstellers Johannes Bobrowski, der 1962 einen „Neuen Friedrichshagener Dichterkreis“ ins Leben rief, offenbar aus einer Sauflaune heraus – das jedenfalls legt Paragraph 8 seiner selbstverfassten Statuten nahe: „Das Zentralorgan des Friedrichshagener Dichterkreises ist die Leber.“

Noch bevor ich das alles las, bekam ich große Lust, einen neuen Schreib- und Zechzirkel in Friedrichshagen zu gründen, aber die Antiquarin bremste meinen Enthusiasmus. Die Zeit, als Literaten hier günstig lebten, sei leider vorbei, warnte sie mich: Seit der Wende seien die Immobilienpreise locker auf Prenzlauer-Berg-Niveau geklettert. Ich ließ den Kopf hängen. „Sie können es natürlich machen wie Peter Hille im 19. Jahrhundert“, schlug die Antiquarin aufmunternd vor. „Der hat bei seinen reichen Friedrichshagener Freunden auf der Couch geschlafen.“

Fläche: 14,0 km² (Platz 15 von 96)
Einwohner: 18 288 (Platz 58 von 96)
Durchschnittsalter: 49,8 (Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Johannes Bobrowski, Wilhelm Bölsche, Bruno Wille (alles Schriftsteller)
Gefühlte Mitte: Bölschestraße
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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