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Oldtimer-Treffen. Der Charme Hellersdorfs erschließt sich manchmal erst auf den zweiten Blick.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo Dichter auf Beton blicken

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Nr. 37: Hellersdorf.

Wer Hellersdorf an einem grauen Novembertag besucht, sollte seelisch einigermaßen im Gleichgewicht sein und ein solides Frühstück im Magen haben. Man kann hier sonst auf sehr trübe Gedanken kommen. Mir zum Beispiel drückten die bis zum Horizont gestapelten Betonmassen irgendwann so aufs Gemüt, dass ich mich fragte, ob die sozialistische Menschheitserlösung nur um den Preis architektonischer Menschenverachtung zu haben ist. Ob das Paradies auf Erden also nur als Plattenbauhölle errichtet werden kann und die Silbe „Hell“ in „Hellersdorf“ dafür ein Zeichen ist.

„Das schönste Bauwerk Europas ist die Mauer“

Aber natürlich ist Architektur Geschmackssache. „Das schönste Bauwerk Europas ist die Mauer“, fand zum Beispiel der Schriftsteller Ronald Schernikau, der die letzten Jahre seines kurzen Lebens in Hellersdorf verbrachte. Als er den Satz mit der Mauer sagte, lebte er noch westlich seines Lieblingsbauwerks, in der BRD. Zum Umzug nach Osten entschloss er sich mit Ende 20, ermutigt von seinem Berufskollegen Peter Hacks, der ihm von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs geschrieben hatte: „Falls Sie vorhaben, ein großer Dichter zu werden, müssen Sie in die DDR; sie allein stellt Ihnen – auf entsetzliche Weise – die Fragen des Jahrhunderts.“

Als letzter Westdeutscher, der im Osten eingebürgert wurde, bezog Ronald Schernikau am 1. September 1989 eine Zweiraumwohnung in der Albert-Norden-Straße 241. Die Straße, die damals den Namen eines Politbüromitglieds trug, heißt heute Cecilienstraße. Neben der Eingangstür des sechsstöckigen Plattenbaus entdeckte ich eine Gedenkplakette für den einstigen Bewohner Schernikau, der 1991 an Aids gestorben ist. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er hier auf seinem Balkon gesessen hatte, umringt von Beton und den Fragen des Jahrhunderts, ein Mauerverteidiger bis zuletzt, der seinen Kollegen beim Schriftstellerverband der DDR noch 1990 predigte, sie wüssten nichts „von dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem Einzelnen seiner Bewohner abverlangt“. War ihm bewusst, mit welchen Mitteln im Osten Quergeister unterworfen wurden, deren Schicksal sich nicht so gut propagandistisch ausschlachten ließ wie das kurze, wirre Leben des Ronald Schernikau?

Ich suchte nach Zeichen von Ironie, aber da waren keine

Auf einem überwucherten Stück Brachland kurz vor der nördlichen Stadtgrenze lief ich einem älteren Herrn mit Walking-Stöcken über den Weg. Ich fragte ihn, wie Hellersdorf ausgesehen hatte, bevor die Betonblöcke gebaut wurden. „Kann ich Ihnen nicht sagen“, antwortete er. Er komme aus dem Westen und sei erst nach der Wende in den Ortsteil gezogen. „Weil’s hier so schön ist.“ Sprachlos sah ich ihn an. Ich suchte nach Zeichen von Ironie, aber da waren keine. Stand vor mir ein Wiedergänger von Ronald Schernikau?

Erst später, als ich zurück in Richtung U-Bahn lief, begriff ich, was der ältere Herr gemeint hatte. Sehen Sie denn nicht, hatte er gesagt, wie vergleichsweise niedrig hier die Häuser sind, wie weit sie voneinander entfernt stehen, wie viel Licht in die Wohnungen fällt? Sehen Sie nicht, wie schön nach der Wende die Fassaden umgestaltet wurden, wie grün hier alles ist, wie wenig Verkehr es gibt, wie nah die Seen und Wälder hinter der Stadtgrenze sind? So hatte ich das noch nicht betrachtet.

Fläche: 8,1 km² (Platz 44 von 96)
Einwohner: 79 233 (Platz 14 von 96)
Durchschnittsalter: 40,3 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Gerd Christian (Schlagersänger), Ronald Schernikau (Schriftsteller)
Gefühlte Mitte: Einkaufszentrum Helle Mitte
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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